UA-176845053-2 Männer und innere Leere: Ursachen und Erscheinungsformen

November 1

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Männer und innere Leere (I) – Hintergründe, Ursachen, Erscheinungsformen (Männerrat #39)

Kurzfassung

Innere Leere betrifft viele Männer – oft unbemerkt, oft sprachlos. Sie tritt nicht nur als psychisches Symptom auf, sondern auch als existenzielles Lebensgefühl: das Fehlen von Sinn, Resonanz und emotionaler Verbindung zu anderen und der Welt insgesamt. Der folgende Text analysiert die vielfältigen Ursachen und Ausdrucksformen dieses Phänomens, verknüpft psychodynamische, gesellschaftliche und philosophische Perspektiven und zeigt auf, wie Männer mit diesem Zustand konstruktiv umgehen können.

Dabei wird deutlich: Leere ist nicht einfach ein pathologisches Defizit, sondern Ausdruck biografischer Selbstentfremdung und kultureller Desorientierung. Männliche Sozialisierung, Rollenwandel und -diffusion, Leistungsdruck und emotionale Abspaltung spielen zentrale Rollen. Empirische Studien zum Thema untermauern die große Verbreitung des Problems. Aber durch die zunehmende Bewusstwerdung und Sensibilisierung für das Thema werden auch mehr und mehr Lösungs- und Hilfemöglichkeiten - wie psychotherapeutische Zugänge, Gruppenformate und im Besonderen die Logotherapie mit Männern – entwickelt. Diese zielen darauf ab, innere Leere nicht nur zu überwinden, sondern in Reifung zu verwandeln.

Ein abschließendes Fallbeispiel verdeutlicht, wie ein Mann durch die therapeutische Konfrontation mit seiner inneren Leere zu einem authentischeren Selbst findet. Das Resümee begreift die Leere nicht als Abgrund, sondern als Übergangsraum – einen Prüfstein männlicher Reifung und eine Einladung zur Lebenskunst.

Innere Leere – es gab sie schon immer

In einer Zeit beschleunigter Kommunikation, digitaler Dauerpräsenz und gesellschaftlicher Krisen und Umbrüche wird ein Phänomen immer deutlicher spürbar: das Empfinden innerer Leere bei vielen Menschen. Diese Leere ist nicht nur ein individuelles, psychisches Leiden, sondern spiegelt auch eine umfassende kulturelle Entfremdung wider. Die Überbetonung des Individualismus, der Diversität und der Selbstverwirklichung bei gleichzeitigem Zerfall traditioneller Wertesystems – vor allem des Christentums als Leitreligion und der assoziierten moralischen Werte (Ehe, Familie, Kinder) - erzeugen so viel Mikro- und Makrostress, dass viele Menschen sich in der neuen Gesamtsituation orientierungslos erleben, sich nicht mehr wohlfühlen und innerlich zu zerbrechen drohen. In Gesprächen, Texten, Therapie- und Beratungssettings zeigt sich immer wieder ein starkes Gefühl von innerer Abgestumpftheit, Sinnverlust und Beziehungslosigkeit zu sich selbst und damit auch nach außen zur Welt. Müdigkeit, Erschöpfung und Antriebslosigkeit machen sich in einer Epoche des äußeren Wohlstands vieler breit, so dass von mehr und mehr innerer Verarmung auszugehen ist.

Es betrifft Menschen aller Geschlechter, Altersgruppen und sozialen Hintergründe. Im Folgenden wird auf Männer fokussiert, wohlwissend dass viele Phänomene in gleicher oder anderer Weise auch auf Frauen zutreffen. Bei Männern zeigt sich die Leere auf spezifische Weise: Sie bleibt häufiger nicht geäußert, innerlich abgekapselt und damit unbenannt, wird durch Leistungsstreben übertönt, durch Konsum kompensiert oder durch Sucht und emotionale Rigidität betäubt. Die psychologischen und gesellschaftlichen Ursachen und Erscheinungsformen innerer Leere im Leben von Männern gilt es zu ergründen, um sie ändern zu können. Abschließend werden deshalb auch Wege zur Überwindung aufgezeigt, die Männer zu einem reiferen, erfüllteren Selbst- und Weltverhältnis führen können.

Eine stille Epidemie: Was ist innere Leere?

Innere Leere ist kein klar umrissenes Krankheitsbild, sondern ein existenzielles Empfinden: "Nichts berührt mich mehr; ich funktioniere, aber lebe nicht; mein Leben erscheint mir sinnlos oder überflüssig", ist ein typischer Satz eines betroffenen Mannes gewesen, der bei mir in der psychotherapeutischen Behandlung war. Dieses Empfinden tritt nicht in einem plötzlichen Anfall auf, sondern ist meist das Resultat lang andauernder psychischer und sozialer Entfremdung. Die Entwicklung verläuft erst schleichend, dann immer schneller.

Die Symptome reichen von chronischer Antriebslosigkeit, emotionaler Abgestumpftheit und sozialem Rückzug bis hin zu rastloser Betriebsamkeit, innerer Unruhe und latent suizidalen Gedanken (vgl. Rosa 2016; Fromm 1941). Chronische, lang anhaltende innere Leere ist mehr als ein Gefühl – oder viel öfter die Abwesenheit von Gefühlswahrnehmungen -, sondern ein umfassender Gemütszustand. Viele Betroffene berichten von einem Leben im "Autopilotmodus", in dem zwar äußerlich Leistung erbracht wird, aber innerlich kein Gefühl von Lebendigkeit oder Sinn vorhanden ist. Sie wissen dann nicht mehr, wozu sie eigentlich leben. Der Lebenssinn ist verloren gegangen – oder war in manchen Fällen nie klar vorhanden. Dabei brauchen Menschen zum Wohlbefinden und zur psychischen Gesundheit wenigstens Vorstellungen vom Sinn ihres Lebens. 

Bewusstseinspsychologische Ursachen innerer Leere

Aus bewusstseinspsychologischer Sicht ist das Erleben innerer Leere eng mit der Struktur und Dynamik des Selbst-Bewusstseins verbunden. Unser Bewusstsein bildet kein statisches Zentrum, sondern einen sich kontinuierlich wandelnden Prozess der Selbstbeobachtung, Intentionalität und Integration von Erfahrungen. Wenn zentrale Lebensaspekte – wie Werte, Ziele oder emotionale Bindungen – nicht mehr bewusst reflektiert oder innerlich integriert werden, entsteht eine innere Inkongruenz, die als Leere empfunden werden kann.

Die Bewusstseinspsychologie unterscheidet zwischen phänomenalem Bewusstsein (das Erleben selbst), reflexivem Selbstbewusstsein (das Wissen um das eigene Erleben) und narrativen Selbstmodellen (die kohärente Geschichte, die wir uns über uns erzählen). Bricht eines dieser Elemente weg – z. B. durch massive Lebenskrisen, Rollenbrüche oder chronische emotionale Unterdrückung – kann ein Vakuum im Selbstempfinden entstehen. Das Ich fühlt sich leer, weil es keinen sinnstiftenden inneren Bezugspunkt mehr wahrnimmt. Die bewusstseinspsychologische Perspektive lädt dazu ein, innere Leere nicht als bloßes Fehlen von Emotionen oder Motivation zu betrachten, sondern als Störung der bewussten Selbstverbindung. Die Frage ist nicht nur: „Was fehlt mir?“, sondern auch: „Wie bin ich innerlich noch mit mir in Kontakt?“

Für die therapeutische Praxis bedeutet das: Die Förderung achtsamer Selbstwahrnehmung, die Wiederherstellung einer kohärenten inneren Geschichte und die Ermutigung zur Selbstbefragung können wesentliche Schritte zur Integration innerer Leere sein. Nicht jede empfundene Leere ist pathologisch. Die Phänomenologie der inneren Leere verweist auf ein Spektrum an Erfahrungen, das von lähmender Apathie bis hin zu kontemplativer Tiefe reicht. Existenzielle Leere kann Anstoß zu  innerer Bewusstwerdung sein – ein „Durchgangsraum“, wie ihn die Bewusstseinspsychologie beschreibt. Innere Leere ist dabei nicht primär „leer“, sondern oft voller unbewusster Inhalte, verdrängter Affekte oder unbenannter Sehnsüchte. In der Selbstreflexion kann sich diese Leere transformieren: Was vorher diffus und bedrohlich wirkte, erscheint nun als Einladung zur Einkehr. Die Leere wird Tiefe. „In der Leere spiegelt sich das, was wir sind – nicht das, was wir tun.“

Therapie bei chronischer innerer Leere?

In die Therapie kommen die Betroffenen meist erst, wenn alle bisherigen Kompensationsstrategien – wie Konsum, Leistung, Ablenkung – nicht mehr greifen. Die innere Leere als bewusstseinspsychologisches Phänomen ist evolutionär sicher schon sehr lange vorhanden. Mit der Entwicklung des Großhirns und seinen starken Denk- und Selbstreflektionsmöglichkeiten vergrößerte sich auch die Notwendigkeit, den vorhandenen Wahrnehmungs-, Denk- und Reflektionsraum zu füllen.

Ideologien, verstanden als plausible Sinnsysteme, wirken orientierend und sinnstiftend und tragen zu Stressreduktion und Beruhigung bei. Solange die Menschen durch Alltagsbewältigung überwiegend eingenommen waren, wurde innere Leere kaum als Problemfeld wahrgenommen. Zusätzlich machte die „Erfindung“ von Religionen viel von den unangenehmen inneren Stimmungen weg. Erst die moderne westliche Welt mit einem reichhaltigen Angebot an Freizeitablenkungen und Spaßvergnügungen einerseits und dem Verschwinden der Religionen als Sinnsysteme lenken die Aufmerksamkeit der Individuen auf das innere Bewusstseinsvakuum, wenn es zur Konfrontation mit dem Inneren kommt. Dies ist spätestens in schlaflosen Nächten der Fall. Die postmoderne Welt lässt den Menschen in den schlaflosen Nächten im Stich bis auf unzureichende Lösungen wie dauerhafter Medienkonsum oder Dauerkonsum von Medikamenten. Aber diese Strategien können nicht vom Antwortvakuum der heutigen Zeit ablenken. Ohne die traditionellen Religionen muss jeder Mensch selbst Sinn und Antworten finden. Ein Preis der Individualisierung. 

Männer und innere Leere – Erscheinungsformen, Hintergründe

Männer erleben und äußern innere Leere auf spezifische Weise – oft verdeckt, im übertriebenen Funktionieren oder Externalisieren. Während Frauen häufiger depressive Symptome wie Rückzug, Weinen oder Selbstaufgabe zeigen, neigen Männer dazu, Leere in Überaktivität, Aggression, Suchtverhalten oder Beziehungslosigkeit zu übersetzen. Die Leere erscheint nicht als Leere, sondern als Reizbarkeit, chronische Langeweile, emotionale Abwesenheit oder Selbstverachtung.

Typisch männliche Ausdrucksformen sind im Einzelnen:

  • Überkompensation durch Leistung: Die Leere wird überdeckt durch ein exzessives Tätigsein – im Beruf, im Sport, in Projekten. Anerkennung ersetzt dabei emotionale Resonanz.
  • Sucht- und Konsumverhalten: Alkohol, Pornografie, exzessives Essen oder Arbeiten dienen der Betäubung des inneren Vakuums.
  • Vermeidung von Nähe: Emotionale Distanz wird zur Strategie, um sich nicht mit der eigenen inneren Verlassenheit konfrontieren zu müssen.
  • Rückzug in Ideologien oder Zynismus: Um keine Schwäche zeigen zu müssen, flüchten manche Männer in intellektuelle Überlegenheitsgesten oder radikale Ideologien. 

Diese Strategien sind oft Teil eines männlichen Bewältigungsmusters, das Gefühle wie Einsamkeit, Trauer oder Bedürftigkeit nicht zulässt – weil sie im Sozialisationsprozess als „unmännlich“ stigmatisiert wurden und in der Folge schwer auszuhalten sind. Dadurch wird die innere Leere nicht bearbeitet, sondern in Beziehungslosigkeit, Gefühlschaos (vgl.  Männer im Gefühlschaos – Entstehung, Lösungen, Hilfen (Männerrat #35)) oder Selbstentfremdung überführt.

Forschungsstudien zu innerer Leere bei Männern

Empirische Studien bestätigen diese Unterschiede. Wong et al. (2021) zeigen in ihrer Meta-Analyse, dass Männer emotionale Leere seltener artikulieren, aber häufiger in externalisierende Symptome umwandeln. Auch Stillman et al. (2021) sprechen von einer „maskulinen Emotionsvermeidung“, die innere Leere versteckt und dadurch langfristig verstärkt. „Er war da, aber nicht wirklich anwesend“. So beschreiben Partnerinnen oft das Erleben mit emotional abgekoppelten Männern. Diese Dynamik zu erkennen, ist zentral für jede geschlechtersensible Psychotherapie. Denn die Frage ist nicht nur, ob Männer Leere erleben – sondern wie sie gelernt haben, sie zu tarnen. Sie tun dies nicht aus dem Streben nach Täuschung, sondern aus dem gelernten Unvermögen, sich anders zu verhalten.

Weitere einschlägige Studien haben gezeigt, dass Männer seltener psychologische Hilfe suchen, obwohl sie ähnlich häufig unter depressiven oder angstrelevanten Symptomen leiden wie Frauen (vgl. Haubl 2022). Sie fürchten oft, in der Therapie emotional überfordert oder gar nicht erst in ihrem Innersten verstanden zu werden. Studien des „Centre for Male Psychology“ in England zeigen, dass dies teilweise berechtigt ist. Allzu oft erkennen selbst ausgebildete psychotherapeutische Fachkräfte nicht die geschlechtsspezifischen Ausdrucksformen innerer Leere und der Begleitprobleme bei Männern. 

Lebenskrisen wie Trennung, Krankheit, berufliches Scheitern oder der Übergang in die Phase der Lebensmitte, wenn die Kinder das Haus verlassen, können als Auslöser dienen, in denen die innere Leere als erlebtes Problem erstmals offen zutage tritt. Die Leere wird dann spürbar als Gefühl existenzieller Einsamkeit, Verlorenheit in der Welt, des "Nicht-Genug-Seins" oder ganz allgemein als Sinnverlust. Die Verbindung zur eigenen Emotionalität ist oft abgebrochen oder nie ausgebildet worden. Der Philosoph Byung-Chul Han beschreibt diesen Zustand als eine "Müdigkeit des Selbst", das in permanenten Optimierungszwängen seine Substanz mehr und mehr verliert (Han 2010). 

Psychodynamische und entwicklungspsychologische Hintergründe

Entwicklungspsychologisch betrachtet entsteht anhaltende innere Leere oft aus frühen Bindungsverletzungen. In vielen Biografien betroffener Männer finden sich einerseits bindungsschwache, depressive und negativistische Mütter und kalt-distanzierte, wenig zugewandte und emotional unerreichbare Väter. Häufig handelt es sich in den Familienkonstellation auch um abwesende, getrennt lebende Väter. Wenn das Kind weder positiv gespiegelt noch grundsätzlich liebevoll behandelt wurde, bildet sich kein stabiles inneres Selbst aus. Es entsteht ein sogenanntes "falsches Selbst" (Winnicott, 1960), das zwar nach außen funktioniert, aber innerlich leer bleibt. 

Es fehlen bei vielen Männern mit chronischer innerer Leere emotionale Sprachkompetenzen und Erfahrungen von Resonanz in sozialen Interaktionen mit nahestehenden Personen. Wer als Junge primär gelernt hat, stark zu sein, darf keine Angst oder Schwäche zeigen. Dieses Verbot innerer emotionaler Regungen führt langfristig zu emotionalen Abspaltungen. So berichten viele Männer erst in späteren Lebensphasen, dass sie gar nicht genau spüren und ausdrücken können, was sie fühlen. Aus psychodynamischer Sicht ist Leere hier das Resultat einer chronischen Affektvermeidung und eines dauerhaft unterbrochenen Selbstbezugs. Es besteht kein selbstreflexiver Bezug zu sich selbst, so dass man sich mehr und mehr fremd wird. Dies ist eine Hauptvoraussetzung zur Entstehung innerer Leere.

Innere Leere als beherrschendes Grunderleben kann dadurch tief in der psychischen Struktur eines Menschen verankert sein – als Folge früher Bindungsabbrüche, mangelnder emotionaler Spiegelung oder traumatischer Erfahrungen. In der psychodynamischen Theorie wird Leere oft als Ausdruck eines Mangels an inneren Objekten (Bezugspersonen) zur sicheren und liebevollen Bindung verstanden: Der Mensch hat im Verlauf seiner Entwicklung keine verlässlichen, liebevoll besetzten inneren Repräsentanzen (Abbildungen) dieser äußeren Objekte (vor allem der Mutter) aufbauen können, an denen er sich in Krisen orientieren könnte (Kernberg, 1976).

Früher Bindungserfahrungen und das „falsche Selbst“

Besonders relevant sind hier frühe Bindungserfahrungen. Kleinkinder, die in ihrer emotionalen Bedürftigkeit nicht gesehen, gespiegelt oder beruhigt wurden, entwickeln häufig ein „falsches Selbst“ (Winnicott, 1960), das sich an äußeren Erwartungen orientiert, aber innerlich leer bleibt. Sie lernen früh, sich selbst zu regulieren, weil sie es im Alltag einfach müssen, ohne dabei ein echtes Gefühl innerer Sicherheit auszubilden. Sie passen sich durch diese vordergründig oft perfekte Regulation an die vorhandene Angst, Unsicherheit und Lieblosigkeit an, ohne sie bewältigen zu können. Diese strukturellen Defizite im Selbst setzen sich später in Beziehungsmustern fort – häufig in Form von Überanpassung, Beziehungslosigkeit, Einsamkeit oder übermäßiger Autonomie. 

Männer sind hiervon in besonderer Weise betroffen, da emotionale Bedürfnisse in ihrer Sozialisation oft unterdrückt oder entwertet wurden. Sie erleben dann nicht nur Schmerz und Unsicherheit, sondern müssen die entstehende Enttäuschung und Angst gleichzeitig noch besonders stark unterdrücken. Anstelle authentischer Gefühlsregulation treten übermäßige Kontrolle, Rückzug oder Leistungszwang – ein Boden, auf dem sich Leere als Abwehrmechanismus mehr und mehr ausbreiten kann. Einschlägige Studien belegen, dass insbesondere emotional vermeidende Bindungsstile mit innerer Leere und chronischer Unzufriedenheit korrelieren (Mikulincer & Shaver, 2016).

Auch die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie liefert Erklärungen: Fehlen „gute Objekte“ (Beziehungspersonen) im inneren Erleben, oder sind diese ambivalent besetzt (z. B. geliebt und gefürchtet zugleich), kann ein dauerhaftes Gefühl innerer Verlassenheit entstehen. Dies wird entweder abgewehrt – etwa durch Idealisierung oder Abspaltung – oder als chronisches Defizit erlebt. Otto Kernberg (1999) beschreibt diesen Zustand als „leere Identität“, die mit instabilen Beziehungen und diffuser Selbstwahrnehmung einhergeht. Der Bindungsexperte und -forscher D.W. Winnicott drückte es mit anderen Worten aus:  „Die Leere des Selbst ist oft das Echo einer frühen emotionalen Verwahrlosung.“

Fallbeispiel zur inneren Leere

Oliver ist ein 48-jähriger Ingenieur, der sich mit dem Gefühl „innerer Leere“ in eine tiefgreifende Lebenskrise manövriert hat. Nach außen wirkt er erfolgreich, rational, kontrolliert – ein Mann mit Karriere, Familie und gesellschaftlicher Anerkennung. Doch innerlich empfindet er seit Jahren ein diffuses Gefühl von Bedeutungslosigkeit und Entfremdung. Seine Partnerschaft funktioniert oberflächlich, aber ohne emotionale Tiefe; er fühlt sich nicht ausreichend geliebt. Die Partnerin macht ihm oft Vorwürfe, er sei gefühlskalt und abwesend. Er fühlt sich dann noch einsamer und unverstanden. Nach der Arbeit trinkt er regelmäßig einige Bier, konsumiert stundenlang Serien oder verliert sich in technischen Online-Foren – ohne innere Beteiligung, aber mit einem starken Wunsch, sich wenigstens bei diesen Aktivitäten selbst irgendwie zu spüren.

In der biografischen Arbeit zeigte sich: Oliver wurde als Kind eines emotional abwesenden Vaters und einer überforderten, oft depressiven Mutter groß, die seine Bedürfnisse kaum spiegelten. Früh übernahm er Verantwortung, auch für die Gefühlslagen der Mutter, entwickelte ein leistungsorientiertes Selbstbild und verdrängte Schwächen. Seine aktuelle Krise wurde ausgelöst durch den Auszug der erwachsenen Kinder und eine berufliche Umstrukturierung in seiner Firma, die seine Rolle ins Wanken brachte. Erst durch therapeutische Begleitung konnte er erkennen, dass er sich in einem emotionalen Vakuum befand – einem Mangel an Selbstkontakt und innerer Verbundenheit.

Olivers Fall zeigt exemplarisch, wie ein scheinbar geordnetes Leben zur Bühne einer tief verborgenen inneren Leere werden kann – besonders bei Männern, die früh lernen mussten, sich über Funktion statt über Gefühl zu definieren. In der therapeutischen Praxis ist es wesentlich, nicht nur Symptome zu behandeln, sondern die tieferliegenden Entwicklungsbrüche, Affektvermeidungen und unbewussten Beziehungserwartungen zu verstehen und zu bearbeiten. Erst wenn der emotionale Mangel benannt, betrauert und integriert wird, kann sich das innere Erleben allmählich wieder füllen – mit Subjektivität, Beziehung und Sinn.

Bewältigungs- und Überlebensstrategien im Alltag von Männern

Männer mit dem Gefühl starker innerer Leere zeigen oft vordergründig Abwehrmechanismus gegen dieses Gefühl: Ablenkung, Aktivitäten, Substanzkonsum, Verhaltenszwänge und ähnliches. ein unbewusstes Gefühl der Verlassenheit. Auch die Flucht aus engen Beziehungen oder „Serienbeziehungen“, vielen oberflächlichen sexuellen Beziehungen, können Abwehrmechanismen darstellen. Um als angstvoll und gefährlich erlebter Tiefe und Verletzlichkeit von Bindung zu entgehen, fliehen manche Männer zur Abwehr in wechselnde Beziehungen oder in emotionale Unverbindlichkeit.

Diese Ausdrucksformen sind keine Defizite männlicher Persönlichkeit, sondern Überlebensstrategien. Sie verweisen auf ein grundlegendes Dilemma: Männer dürfen fühlen, aber nicht zu viel. Sie sollen stark sein, aber dürfen keine Schwäche zeigen. In diesem Spannungsfeld wird Leere zur psycho-logischen Folge – und zur versteckten Not.

Gesellschaftliche Ursachen und männliche Rollenkrisen

Neben individuellen und biografischen Ursachen trägt auch die gesellschaftliche Entwicklung maßgeblich zur inneren Leere vieler Menschen bei. In einer Zeit, in der klassische Rollenvorstellungen zunehmend in Frage gestellt werden, sich teilweise aufgelöst haben, aber neue Leitbilder noch diffus sind, verlieren vor allem viele Männer ihren inneren Kompass. Die alte Rolle – stark, unabhängig, rational, versorgend – hat ausgedient, doch eine neue, tragfähige Form männlicher Identität ist in der westlichen Welt, die davon primär von diesen Problemen betroffen ist, meist nicht in Sicht. Viele Männer reagieren darauf mit Rückzug, Depression und Verstummen, manche aber auch mit Wut, Aggression und Radikalisierung.

Das Erleben des schnellen gesellschaftlichen Wandels erzeugt Risiken und Chancen. Zu den Folgen zählen Ohnmachtsgefühle und tiefe Verunsicherung, was von vielen als Dauerstress erlebt wird. Männer, die sich nicht mehr über traditionelle Maskulinitätsmarker wie beruflichen Erfolg, Dominanz oder emotionale Unverletzlichkeit definieren können oder wollen, sehen sich mit einem Vakuum konfrontiert: Wer bin ich, wenn ich nicht mehr der starke Ernährer oder stille Durchhalter bin? Dieses Identitätsloch begünstigt das Entstehen innerer Leere, die angsterzeugend sein kann.

Hinzu kommen strukturelle Faktoren wie der Bedeutungsverlust von Religion, Kernfamilie und anderer Werte. In einer flexiblen, digitalisierten Gesellschaft geraten viele Männer in eine existenzielle Beschleunigungsspirale: Alles ist möglich – aber nichts ist verbindlich und dauerhaft. Orientierung wird ersetzt durch Optionen, Tiefe durch Geschwindigkeit. Lebensentwürfe müssen immer wieder revidiert und angepasst werden, um dazuzugehören. Das erzeugt zwar Flexibilität, aber kein ausreichendes Maß an Stabilität.

Der Sozialpsychologe Hartmut Rosa (2016) beschreibt dies als „Resonanzverlust“: Die Welt wird zur stummen Kulisse, in der keine echte Beziehung mehr gelingt. Gerade Männer – sozialisiert auf Kontrolle und Funktionieren, oft mit nur wenigen oder gar keinen engen Beziehungen durchs Leben taumelnd – leiden unter diesem Beziehungsverlust besonders, auch wenn sie ihn selten benennen.

Falsche Botschaften und Zuschreibungen, wo Hilfen nötig wären

Nicht zuletzt spielt auch die öffentliche Diskurslage eine wichtige Rolle: Während männliche Privilegien pauschal kritisiert und toxische Männlichkeit generalisiert thematisiert werden, fehlt der differenzierte Blick auf die tatsächlichen, oft hochproblematischen Lebenslagen vieler Männer. Die haben allzu oft mit Einsamkeit (vgl. Raus aus der Einsamkeit – einsame Männer: Probleme und Hilfen), Sinnverlust, Depression (vgl. Männerdepression – Wo gibt´s denn so was?) und Sucht (Sucht bei Männern – Kommt hier zusammen, was zusammengehört? Teil II: Die Risikofaktoren) zu tun und sind alles andere als privilegiert oder toxisch. Meist fehlt es an konstruktiven Angeboten, wie eine lebensdienliche, reife und emotional integrierte Männlichkeit heutzutage aussehen könnte. So entsteht nicht nur Leere, sondern auch eine subtile Scham über die eigene vermeintliche Falschheit in der heutigen Welt. Wie in einem Teufelskreis entstehen noch mehr Sprachlosigkeit und Rückzug.

Gesellschaftliche Transformation ohne Lebenskonzepte mit Identifikationsmöglichkeiten hinterlässt innerlich zutiefst verunsicherte Männer. Die innere Leere ist damit auch ein kulturelles Phänomen – und ein Spiegel der Frage, wie Männlichkeiten künftig gesund und förderlich gelebt werden können. Die – offen oder implizit - lange gegebene Antwort „Werdet wie die Frauen!“ kann es nicht sein. So viel ist schon lange klar. Männer mit Identitäts- und Selbstfindungsproblemen brauchen eigene, geschlechtsspezifische Lösungen (vgl. Das Verschwinden der Männlichkeit). 

Wege aus der inneren Leere: Therapeutische und kulturelle Transformation

Die Erfahrung innerer Leere muss keine Sackgasse sein. Sie kann der Ausgangspunkt einer tiefgreifenden persönlichen Veränderung sein, die als vertiefte Selbstreflektion bis hin zur spirituellen Transzendenz verstanden werden kann. Innere Leere ist ein Raum, der zunächst depressiv und ängstlich machen kann, der mit Sinn, Identität und innerem Reichtum gefüllt werden kann. Es bedarf dafür mindestens Zeit, Menschen und Methoden, die eine Konfrontation mit der Leere ermöglichen, ohne sie vorschnell zu übertönen. Der Weg führt nicht über Ablenkung oder schnelle Lösungen, sondern über einen bewussten Prozess der Selbstbegegnung, Integration und Neuorientierung. Kurzfristig können Aktivierung, Sozialkontakte, Sport und Beschäftigung durchaus als nützlich empfunden werden, in einem tieferen Sinne helfen sie jedoch nicht, weil sie ein Mehr desselben darstellen, das zuvor in die Sackgasse geführt hat. 

Es kommt auf Tiefe, Nachhaltigkeit und Unterstützung an

Die Überwindung chronischer innerer Leere braucht einen langen und intensiven Weg. Im Einzelnen  kommen in Frage:  

Therapeutische Räume 

Psychotherapie kann eine zentrale Rolle spielen. Besonders wirksam sind tiefenpsychologisch fundierte, existenzielle oder integrative Ansätze, die nicht nur Symptome lindern, sondern Sinnfragen zulassen. Die Logotherapie nach Viktor Frankl (1992) etwa zielt nicht auf Symptomkontrolle, sondern auf die Wiederentdeckung eines persönlichen Lebenssinns. Auch körperorientierte Verfahren oder die Arbeit mit inneren Anteilen (z. B. Ego-State-Therapie) haben sich in der Behandlung von Leere-Erleben bewährt.

Männergruppen 

Spezifische Männergruppen bieten einen geschützten Raum, um über Themen zu sprechen, die im Alltag tabuisiert sind: Verletzlichkeit, Einsamkeit, Verzweiflung, Orientierungslosigkeit. In diesen Gruppen erfahren Männer oft erstmals, dass sie mit ihrem Gefühl der inneren Leere nicht allein sind. Der offene Austausch, das gemeinsame Schweigen, die stille Meditation, das Erleben von tiefer Verbundenheit jenseits von Leistung und Selbstdarstellung schafft heilsame Erlebensräume. Empirische Studien haben wiederholt gezeigt, dass solche Gruppen das Selbstwertgefühl und die emotionale Selbstwahrnehmung der Teilnehmer signifikant stärken.

Kulturelle Narrative

Darüber hinaus braucht es neue kulturelle Bilder von Männlichkeit: keine Glorifizierung von Härte und Stärke, aber auch keine Reduktion des Mannes auf ein emotionales und soziales Defizitwesen. Es braucht Erzählungen, die Männer und Männlichkeit positiv sehen, Der Umgang mit innerer Leere sollte dabei als Teil der Reifung auf dem Weg zu einer tief reflektierten Männlichkeit anerkannt werden: als Schwelle, nicht als Scheitern. Dazu gehört eine Sprache für existenzielle Erfahrung, für Ambivalenz, für spirituelle Sehnsucht – eine Sprache, die in der männlichen Sozialisierung oft fehlt. 

Spiritualität und Sinnarbeit

Auch spirituelle Wege können hilfreich sein – sofern sie nicht in dogmatische Enge führen, sondern Raum für individuelle Erfahrung lassen. Kontemplation, Meditation, Naturerfahrung, Rituale oder philosophische Reflexion ermöglichen oft Zugänge zu innerem Sinnerleben jenseits kognitiver Negativbewertung. Männer, die hier Ausdrucksformen finden, berichten häufig von einem neuen Gefühl innerer Verbundenheit –als nachhaltige, tragfähige Tiefe.

Sich selbst aushalten, mit anderen in Beziehung sein, einen Sinn finden

Der Weg aus der inneren Leere ist kein lineares Projekt. Er beginnt oft mit dem Aushalten. Dann braucht es Beziehung – zu sich, zu anderen, zu etwas Tieferem. Und schließlich braucht es eine Haltung: der Aufrichtigkeit, der Selbstfürsorge, der Bereitschaft, aus der Leere nicht zu fliehen – sondern durch sie hindurchzugehen. Aus innerer Leere kann bewusste innere Tiefe werden. Wenn wir uns selbst zunächst aushalten, dann verstehen und dann erweitern, sind wir auf einem sehr guten Weg.

Literatur

Frankl, V. E. (1992). Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn. Beltz.

Fromm, E. (1941). Escape from freedom. New York, NY: Farrar & Rinehart. (Dt.: Fromm, E. (1945). Die Furcht vor der Freiheit. Zürich: Steinberg Verlag.)

Han, B.-C. (2010). Müdigkeitsgesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz.

Kernberg, O. F. (1976). Borderline conditions and pathological narcissism. New York, NY: Jason Aronson.

Kernberg, O. F. (1999). Aggressivity, narcissism, and self. New Haven, CT: Yale University Press.

Mikulincer, M., & Shaver, P. R. (2016). Attachment in adulthood: Structure, dynamics, and change (2nd ed.). New York, NY: Guilford Press.

Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp.Schneider, T. & Baumgart, H. (2020). Sinnzentrierte Gruppentherapie für Männer in Umbruchkrisen. Hochschule Esslingen.

Stillman, T. F., et al. (2021). Existential Isolation and Emotional Emptiness – Empirical Findings from Two National Samples. Personality and Individual Differences, 168, 110368.

Winnicott, D. W. (1960). Ego distortion in terms of true and false self. In D. W. Winnicott, The maturational processes and the facilitating environment: Studies in the theory of emotional development (pp. 140–152). London: Karnac.

Wong, Y. J., et al. (2021). Masculinity and Emotional Emptiness: A Meta-Analytic Review. Psychology of Men & Masculinities, 22(1), 15–30.


Tags

Antriebslosigkeit, Bewusstsein, Depression, Einsamkeit, Existenzangst, innere Leere, innere Unruhe, Psychische Gesundheit, Rückzug, Selbstbewusstsein, Selbstwahrnehmung, Sinn, Sinnfindung, Sinnverlust


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