Männergesundheit – von der „terra incognita“ zum Mainstream?
Die Gesundheit von Männern steht erst seit wenigen Jahren im Fokus der Forschung, die psychische Gesundheit ist dabei bislang noch besonders vernachlässigt (siehe Kapitel Psychische Gesundheit). Dann noch auf die geschlechtsspezifischen Aspekte der psychischen Gesundheit bei Männern zu blicken, ist immer noch ungewohnt und selten.
Dabei gibt es viele Gründe für den spezifischen Blick auf die Gesundheit – auch von Männern: Sie leben durchschnittlich acht Jahre kürzer als Frauen, begehen etwa dreimal so häufig Selbstmord und sind dreimal öfter abhängig von Alkohol und illegalen Drogen. Sie zeigen außerdem riskantere Verhaltensmuster, etwa beim Umgang mit Gefahren, in der Freizeit und im Sport und erleiden darüber auch häufiger Unfälle. In der Altersgruppe von Erwachsenen bis 49 Jahren erleiden Männer fast doppelt so oft Unfälle wie Frauen.
Männer zeigen insgesamt häufiger als Frauen externalisierende Verhaltensweisen. Diese sind nach außen gerichtet und äußern sich daher eher in Aggressivität, Grenzüberschreitungen, Konzentrationsschwäche und Überaktivität, aber auch Neugierde, Risikobereitschaft und Explorationsverhalten. Devianz und soziale Regelverletzungen gehören ebenfalls zur Externalisierung. Häufig zeigen sich diese Verhaltensweisen besonders unter äußerem und innerem Stress.
Männer empfinden und verarbeiten Schmerzen anders
Männer halten Schmerzen in der Regel sogar länger aus als Frauen. Weitgehend Einigkeit besteht bei der Annahme, dass Frauen und Männer generell Schmerzen unterschiedlich äußern und wahrscheinlich unterschiedlich empfinden (Deutsche Schmerzgesellschaft). Geteilter Meinung sind Wissenschaftler aber bei der Frage, wie diese Unterschiede zu erklären sind. Neue Erkenntnisse zeigen aber, dass das Geschlecht eine Rolle beim Empfinden von Schmerzen, dem Auftreten von Schmerzerkrankungen, dem Verlauf von Schmerzen und wahrscheinlich auch beim Therapieerfolg spielt.
Studien zur Häufigkeit von Schmerzen zeigen eindeutig, dass Frauen generell mehr unter Schmerzen leiden als Männer. Dies trifft auf fast alle Arten von Schmerzen zu, wie beispielsweise Kopfschmerzen, Migräne und verschiedene Formen von Muskel-, Gelenk- und Knochenschmerzen. Ebenso berichten Frauen über intensivere und länger andauernde Schmerzen und geben mehr von Schmerzen betroffene Körperbereiche an, wenn sie an einer schmerzhaften Erkrankung leiden. Alter, soziale und psychische Faktoren spielen dabei eine begleitende Rolle, sind aber für die Geschlechterunterschiede nicht maßgeblich.
Männer haben aber nicht nur seltener Schmerzen, sie sind auch schmerzunempfindlicher, wie experimentelle Untersuchungen gezeigt haben. So schätzen Männer beim Verabreichen eines Hitze- oder Druckreizes die Schmerzintensität niedriger ein als Frauen oder halten den Schmerz länger aus und ziehen daher den Arm nach einem Schmerzreiz später weg als Frauen, obwohl der Schmerzreiz gleich stark war.
Ebenfalls scheinen Männer eine höhere Schwelle für schmerzhafte Reize zu haben als Frauen, sodass sie einen Schmerzreiz erst später als schmerzhaft empfinden. Diese meist in Experimenten an gesunden Versuchspersonen erhobenen Daten sprechen dafür, dass das Nervensystem von Männern und Frauen unterschiedlich vorprogrammiert ist. Im Vergleich zu Frauen können Männer vermutlich ihre körpereigene Schmerzhemmung besser aktivieren.
Männer zeigen ein nachlässigeres Gesundheitsverhalten
Aus diesen und anderen Unterschieden heraus zeigen Männer ein anderes Gesundheitsverhalten als Frauen. Sie fühlen sich durch ihre stärkere Körperkraft und niedrigere Schmerzschwelle überlegen und unterschätzen Risiken. Männer gehen seltener zum Arzt, lassen sich bei Symptomen später behandeln und unterdrücken insgesamt Anzeichen von Krankheit stärker als Frauen. Die Sache mit dem „Männerschnupfen“ ist natürlich ein Mythos. Das insgesamt nachlässigere Gesundheitsverhalten von Männern wirkt sich auch ungünstig auf ihre psychische Gesundheit aus, die meist noch mehr vernachlässigt wird als die physische.
Im Alltag werden Männern die riskanteren beruflichen Aufgaben zugewiesen, etwa als Industriearbeiter, Stommastarbeiter, Polizisten, Kanalarbeitern, Feuerwehrleute oder Mitarbeiter im Wachdienst. Hierzu schweigt die feministische Gleichstellungspolitik bislang. Es gibt natürlich nicht die Forderung nach gleich vielen Frauen wie Männern in typischen Gefahren- und Risikoberufen. Was bringt Männer dazu, tendenziell nachlässig und rücksichtslos mit sich selbst umzugehen? Im Hintergrund steht die Tendenz, Stärke zu zeigen und Schwäche zu vermeiden.
Dies wird durch Erziehung, Kultur, neurobiologische Effekte (Schmerzwahrnehmung) und die größere Körperkraft, die eher den Eindruck der Unbesiegbarkeit vermitteln kann, suggeriert. Dabei wollen Männer natürlich gesund und fit sein. In diesem Willen unterscheiden sie sich nicht von Frauen. Aber sie glauben zu oft, dass dies von alleine so ist und so bleibt. Und sie sind im Durchschnitt weniger ängstlich als Frauen, was hier aber zum Nachteil gereicht. Es liegt also eher an den Strategien im Umgang mit sich selbst und den Risiken des Alltags, dass Männer die beschriebenen Zeichen von geringerer Gesundheit aufweisen.
Aber: Das Thema „Männergesundheit“ rückt immer mehr in den Vordergrund. Inzwischen erscheinen Männergesundheitsberichte, die Stiftung Männergesundheit befasst sich fokussiert mit dem Thema und immer neue männerspezifische Forschungsprojekte werden auf den Weg gebracht. Die Entwicklung lässt also hoffen!
Im Jahre 2013 erschien der zweite Männergesundheitsbericht. Er hatte zum ersten Mal den Schwerpunkt psychische Gesundheit von Männern zum Thema. Dennoch bleibt das Thema (psychische) Männergesundheit immer noch weit hinter dem der Frauengesundheit zurück. Es fehlt noch ein großes Stück politischer Sensibilität und politischen Willens, hier für Gleichstellung zu sorgen.
Aktuelle Gesundheitsdaten für Männer
Die regelmäßigen epidemiologischen Erhebungen im Auftrag des Robert-Koch-Instituts (RKI) zeigen, dass Männer insgesamt ungünstigere Gesundheitsdaten im Vergleich mit Frauen aufweisen. Die durchschnittliche Lebenserwartung bei Männern betrug zuletzt 78,36 Jahre (Frauen: 83,18 Jahre). 28% der Männer sterben vor ihrem 70. Lebensjahr.
Im Einzelnen sind folgenden Gesundheitsfakten festzuhalten (Stiftung Männergesundheit, 2020):
Die Ziele einer männersensiblen Gesundheitspolitik sollten sein, dass Männer die gleiche Lebensdauer wie Frauen erreichen, die hohen Prävalenzzahlen für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erfolgreich gesenkt werden und dass Männer insgesamt ein günstigeres Gesundheitsverhalten bei besserer Versorgung entwickeln.
Externalisierung ist häufig Signal psychischer Probleme
Dies sind nur einige der wichtigen gesundheitsbezogenen Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Hinzu kommt, dass ca. 70% aller Suchtkranken (Alkohol-, Drogen- und Glücksspielsucht; Ausnahme: Medikamentenabhängigkeit) Männer sind. Männer zeigen insgesamt eher externalisierende Störungen, d.h. sie wenden emotionale Konflikte, Frustration und Hyperstress von sich ab und richten ihre Reaktionen auf Probleme nach außen. Dies bedeutet nicht, dass sie keine problematischen inneren Prozesse erleben, sondern dass sie mehr tun, um diese zunächst von sich fernzuhalten. Ein durchaus naheliegender Versuch der Problemlösung, aber auf die lange Sicht oft nicht erfolgreich.
Zu den externalisierenden Verhaltensweisen gehören Hyperaktivität, Risikoverhalten, Devianz, Gewalt und Antisozialität. Es gilt also, die Hintergründe dieser Verhaltensweisen, die oft die Endstrecke einer problematischen Sozialisation sind, zu erkennen, frühzeitig präventiv zu beeinflussen. Männer mit den genannten Problemverhaltensweisen sollten adäquate, geschlechtsspezifische Hilfen, z.B. in Form von männerspezifischer Gesundheitsprävention, Psycho- oder Sozialtherapie, erhalten.
Internalisierung bei Männern nimmt langsam zu
Obwohl Männer Stress und psychische Probleme mehr externalisieren als Frauen, nimmt die Tendenz zur Internalisierung bei ihnen langsam zu. Internalisierung bedeutet, sich anhaltend durch Grübeln und Sorgen mit seinen Problemen zu beschäftigen, Ängste zu entwickeln und übermäßiges Beschäftigtsein mit problematischen Körpersignalen. Dementsprechend steigen in den letzten Jahren die Prävalenzen für Ängste, Depressionen, körperdysmorphe und somatoforme Störungen bei Männern an.
Das verstärkte Auftreten von internalisierenden Störungen bei Männern ist auch schicht- und altersabhängig: Männer der sozialen Unterschicht weisen für alle psychischen Störungen – so auch für die internalisierenden - die höchsten Werte auf. Bei Depressionen sind Männer zwischen 50 und 69 Jahren mit Werten zwischen 5% und 6% am stärksten betroffen.
Psychische Störungen in der Arbeitswelt
Psychische Störungen haben in der Arbeitswelt stark zugenommen. Der DAK-Gesundheitsreport 2018 berichtet eine Zunahme der Krankheitstage bei Erwerbstätigen seit dem Jahr 200 von 128%. Mitarbeiter in der Öffentlichen Verwaltung (+ 51.8%) und im Gesundheitswesen (+ 36.2%) liegen dabei deutlich über dem Durchschnitt aller Arbeitnehmer (siehe hierzu auch: „DAK-Psychoreport 2019: dreimal mehr Fehltage als 1997“).
Ein Blick auf die einzelnen Diagnosen zeigt, dass Depressionen und Anpassungsstörungen die meisten Ausfalltage verursachen. 2018 gingen 93 Fehltage je 100 Versicherte auf das Konto von Depressionen, bei den Anpassungsstörungen waren es 51. Danach folgen neurotische Störungen (darunter fallen u.a. somatoforme Störungen, Selbstwertkrisen, Zwangsstörungen) mit 23 Fehltagen je 100 Versicherte. Angststörungen schließlich kommen auf 16 Fehltage je 100 Versicherte. Häufig nicht diagnostiziert – weil für die Betroffenen zu schambelastet – sind Suchtstörungen (siehe hierzu auch Addiction -
Das Portal zum Thema Sucht und Suchterkrankungen).
Besonders wenige Fehltage bei Männern
Wie der DAK-Report 2018 erneut zeigt, nimmt die Zahl der Fehltage für psychische Erkrankungen bei beiden Geschlechtern mit dem Alter kontinuierlich zu. Frauen waren 2018 knapp doppelt so oft wegen psychischer Diagnosen krankgeschrieben als ihre männlichen Kollegen (298 Fehltage je 100 Versicherte gegenüber 183 Fehltagen bei Männern).
Da sich beide Geschlechter bezüglich der Gesamthäufigkeit psychischer Störungen nur um ca. 5% zu Lasten der Frauen unterscheiden, überrascht dieses Ergebnis. Möglicherweise sind Männer seltener bereit, wegen psychischer Beschwerden der Arbeitsstelle fernzubleiben. Oft sind Männer trotz zunehmender Probleme nicht bereit, ihrer Arbeit fernzubleiben. Dies führt zum Thema der mangelnden Selbstfürsorge.
Selbstverschleißung und mangelnde Selbstfürsorge bei Männern
Traditionell werden Jungen zu mehr offenem Wettbewerb und ausdauernder Rivalität erzogen. Sie bringen von ihrer biologischen Ausstattung die idealen Voraussetzungen hierfür mit. Die Nachteile liegen in höheren Zahlen von Männern bei Opfern von Kampfhandlungen, Aggressionen und Selbstverschleißung. Unter Selbstverschleißung sind die Folgen übermäßigen Stresses in Arbeit und Gesellschaft oder Selbstaufopferung zu verstehen.
Die Zahl der Männer, die an Stressfolgeerkrankungen leiden und frühzeitig versterben, sind höher als die von Frauen. Männer zeigen außerdem häufig eine mangelnde Selbstfürsorge. Diese äußert sich in der Negierung von Krankheitssymptomen, der Abwehr von Emotionen und Warnzeichen für Regulationsstörungen und Selbstvernachlässigung, etwa im Bereich des Körpers, der Hygiene, des gesunden Essens.
Hinzu kommt bei vielen Männern eine übermäßige Opferbereitschaft vor dem Hintergrund starken Manipulierbarkeit durch politische oder religiöse Ideologien. Traditionell hat sich dies auf den Einsatz im Krieg bezogen, oft auch in politisch extremen Kampagnen und religiösen Bewegungen. Der Heilige Krieg oder Kriege im Geiste des Nationalismus sind ohne manipulierte Männer nicht denkbar.
Partner- und Freundschaftsbeziehungen steigern die psychische Gesundheit
Männer, die in einer Partnerbeziehung leben, insbesondere einer glücklichen, leben auch länger. Durch vielfältige neurobiologische Rückkopplungen wird das Immunsystem gestärkt, es entwickeln sich weniger Fehlverhaltensweisen (Bewegungsmangel, Suchtmittel, Depressivität) und die biopsychosoziale Gesundheit ist umfassend optimiert. Dieser Effekt scheint für Männer sogar noch etwas stärker zu sein als umgekehrt für Frauen. Auch regelmäßige Sexualität erhöht die psychische Gesundheit und stärkt das Psychoimmunsystem.
Stabile Freundschaften wirken sich ebenfalls positiv auf die psychische Gesundheit von Männern aus. Wenn Männer insbesondere einen besten Freund haben, mit dem sie sich vertrauensvoll austauschen können, ist dies in Krisen und Notlagen eine wichtige Hilfe gegen Depressivität, Suizidalität und Vereinsamung. Das Hilfreiche ist jemand zum Zuhören zu haben, auch Nähe, Intimität und das Gefühl, verstanden zu werden sind hervorragende Hilfen gegen negative emotionale Dauerzustände. Alternativ und weiterführend kann auch eine Männergruppe (Selbsterfahrungsgruppe) oder eine Psychotherapie helfen.
Psychische Störungen bei Männern – Definition, Häufigkeiten und Erscheinungsformen
Ein wichtiger Teil der Gesundheit ist die psychische und mentale Gesundheit. Die Auseinandersetzung, was eine psychische Störung ist, wie sie zu definieren und von körperlicher Gesundheit oder vorübergehenden Krisen abzugrenzen ist, hat eine lange Geschichte. Mehr und mehr hat sich jedoch gezeigt, wie eng physische und psychische Prozesse zusammenhängen und dass sie letztlich nicht zu trennen sind. Die Frage nach psychischer Gesundheit im Unterschied zu psychischen Störungen ist eine normative, also eine Frage der Bewertung und Interpretation. In der Psychiatrie und Klinischen Psychologie folgt man dabei weitgehend den Klassifikationssystemen DSM-5 (2013) und ICD-11 (ca. ab 2022).
Die Hauptkriterien für eine psychische Störung nach dem DSM-5
Es handelt sich um ein Syndrom (eine Kombination von Symptomen), welches durch klinisch signifikante Störungen in den Kognitionen, in der Emotions-regulation und im Verhalten einer Person charakterisiert ist.
Diese Störungen sind Ausdruck von dysfunktionalen psychologischen, biologischen oder entwicklungsbezogenen Prozessen, die psychischen und mentalen Funktionen zugrunde liegen.
Psychische Störungen sind typischerweise verbunden mit bedeutsamem individuellen Leiden oder Behinderung hinsichtlich sozialer, beruflicher oder anderer wichtiger Aktivitäten.
Männer weisen insgesamt zu etwa 30% psychischen Störungen - bezogen auf die jeweils letzten 12 Monate - auf. Die Erkrankungsquote für das ganze Leben liegt bei ca. 40-45% (Lebenszeitprävalenz). Mit anderen Worten: Fast jeder zweite Mann hat irgendwann in seinem Leben ein relevantes psychisches Problem. Sie liegen damit unter den für Frauen gemessenen Quoten.
Eine psychische Störung kommt oft nicht alleine – psychische Komorbidität
In etwas mehr als einem Drittel aller Fälle liegen neben einer psychischen Diagnose auch eine oder weitere Diagnosen vor – zeitgleich oder zeitverschoben. Dieses als psychische Komorbidität bezeichnete Phänomen des gleichzeitigen oder sequentiellen Auftretens mehrerer psychischer Störungen betrifft dann Personen, bei denen eine insgesamt komplexere Problemlage vorliegt oder dadurch erst entsteht, z.B. eine Angst- und Depressionsdiagnose oder eine Sucht- und Persönlichkeitsstörung.
Aus epidemiologischen Untersuchungen ergibt sich eine Rate von 45 % der psychisch Erkrankten in Deutschland, die mehr als eine Diagnose psychischer Erkrankungen haben (Jacobi et al., 2016). 55 % der Erkrankten haben nur eine einzige psychische Diagnose. Bei Frauen liegt die Komorbiditätsrate deutlich höher als bei Männern (50,2 % vs. 36,8 %).
Am häufigsten kommt die Diagnosekombination „Angst und affektive Störung“ vor, gefolgt von „mehrere Angststörungen“. Bei Männern sind besonders psychische Komorbiditäten mit Suchtstörungen häufig, also z.B. Depression und Alkoholabhängigkeit. Bei Männern treten psychische Komorbiditäten um bis zu 10% bis 15% seltener auf als bei Frauen.
Psychische Gesundheit fördern und psychische Erkrankungen früh erkennen und behandeln
Ob Männer insgesamt damit psychisch gesünder sind, bleibt umstritten, da sie Symptome einer psychischen Störung stärker und länger unterdrücken. Dies geschieht oft auch durch die Wirkung von Suchtmitteln. Es gilt also, psychische Störungen nach Möglichkeit im Vorfeld zu verhindern (Primärprävention) oder früh im Entwicklungsprozess an weiterer Entwicklung zu hindern (indizierte Prävention).
Insofern ist der Umgang mit psychischem Unwohlsein, was noch keine Störung bedeutet, aber im Vorfeld liegt, besonders wichtig. Formen psychischen Unwohlseins bestehen oder äußern sich in erhöhtem, dauerhaften Stresserleben, niedrigem Selbstwertgefühl, depressiven Verstimmungen, akuten psychischen Krisen, chronischer Einsamkeit und Substanzmissbrauch. Es gibt viele Möglichkeiten, die psychische Gesundheit zu fördern, die Männer anwenden können (siehe auch Special I: Praktische Tipps).
Sind Männer eine Risikogruppe für psychische Störungen?
Was macht Männer psychisch krank? Was stärkt ihre psychische Gesundheit und lässt sie sogar hinsichtlich Stressresistenz und Wohlbefinden wachsen? Um diese Fragen geht es bei MMH insgesamt und hier im Speziellen. Eine psychisch gesunde Entwicklung und die Verhinderung von psychischen Störungen setzt eine sichere Bindung an die Bezugspersonen in der frühen Kindheit, einen positiven Selbstwert, die Fähigkeit zum Umgang mit Stress und Krisen sowie eine hinreichende Fähigkeit zur Emotionsregulation im Umgang mit sich selbst und anderen voraus.
Deshalb sind einseitig stigmatisierende oder feindselige Betrachtungen eines Geschlechts als Ganzes abzulehnen, wie dies für Männer immer häufiger auftritt. Radikalfeministische Veröffentlichungen wie „Ich hasse Männer“ (siehe Blogposting dazu auf MMH) oder eine generalisierte Toxische-Männlichkeitsideologie befördern eine gesellschaftlich riskante Misandrie (siehe auch „Misandrie - Philanthropie“). Sie stören die Entwicklung der psychischen Gesundheit heutzutage vor allem Jungen (siehe Kapitel Jungen).
Insgesamt weisen Männer im Verhältnis zu Frauen ein leicht erniedrigtes Risiko zur Entwicklung psychischer Störungen auf. Dies könnte sich jedoch, wie etliche Experten im Bereich der Jungengesundheit unter dem Begriff der Boy-Crisis warnen, in der heranwachsenden Generation nachhaltig verändern.
Negative Darstellungen von Männern als Ganzes sind kontraproduktiv und riskant
Dass Männer, die heutzutage leider oft pauschal negativ gesehen, wahlweise lächerlich gemacht (z.B. in der Werbung und in Mainstreammedien) oder als gefährlich und toxisch dargestellt werden, habe ich in den Kapiteln Männerforschung und Kulturen und Systeme dargelegt. Hier geht es nunmehr um die psychischen Folgen dieser Negativpauschalisierungen und Stereotypisierungen.
Sie erschweren es Jungen und Männern, ein positives Selbstwertgefühl und eine ausgeglichene psychische Gesundheit zu entwickeln. Die chronische Abwertung von Männern in der Werbung und den Medien kann außerdem zu negativen Selbstattributionen und Schuldgefühlen führen und die Basis von Dysphorie und psychischen Problemen erzeugen. Dies würde die Zunahme internalisierender psychischer Störungen (neurotische Selbstwertprobleme, Depressionen, Ängste) bei Jungen weiter begünstigen.
Viele Vertreterinnen des extremen Feminismus unterstützen diese ungünstige Entwicklung mit pauschalisierenden und feindseligen Äußerungen. Deshalb kann die Lösung für das psychische Wohlergehen der modernen Menschen nicht in geschlechtsextremen Bewegungen – Feminismus, Maskulismus – liegen, sondern nur im Humanismus. Es muss darum gehen, den Selbstwert und Respekt für alle Menschen zu wahren und sicherzustellen.
Dies scheint heutzutage gerade gegenüber Männern zum Problem geworden zu sein. Die Pauschalisierung von Männern als gefährlich (toxische Männlichkeit) oder abartig (Metoo-Bewegung) ist dabei kontraindiziert und schädlich.
Psychische Gesundheit ist ein hohes Gut
Psychische Gesundheit war schon immer ein hohes Gut für Menschen und ist es heutzutage umso mehr. Für Männer sind die Anforderungen besonders hoch, da zunehmend Stabilität, Belastbarkeit, Stressresistenz und Einfühlungsvermögen als moderne Tugenden neben den Klassikern wie körperliche Stärke, Ausdauer, Schutz und Versorger erwartet werden.
Der moderne Mann sieht sich einer deutlich erhöhten Reihe von Anforderungen gegenübergestellt, will er Akzeptanz und Anerkennung, insbesondere auf dem so wichtigen „Partnermarkt“ finden, der sich auf das Finden einer Wunschpartnerin bezieht (siehe Kapitel Partnerschaft).
Der Erfolg von Männern in Beruf und Privatleben hängt zunehmend davon ab, dass sie ihre klassischen Kompetenzen mit modernen Kompetenzen in einen komplexen Einklang bringen. Die Aufgabe der klassischen Kompetenzen ausschließlich zugunsten der modernen ist keine Lösung, da erstgenannte weiterhin erwartet werden und nach wie vor den Erfolg im Leben (Partner- und Arbeitsmarkt) sehr stark determinieren. Stark und sensibel, klug und einfühlsam, selbstsicher und sozial intelligent, belastbar und resilient sind in ihren jeweiligen Kombinationen wichtige Fähigkeiten des modernen Mannes.
Der Partnermarkt funktioniert nicht nur für heterosexuelle Männer nach den genannten Regeln, sondern auch für homosexuelle Männer gilt dasselbe in Bezug auf einen Wunschpartner. Aber die Entwicklung in die neuen komplexen Rollenmuster ist für Männer ungewohnt und komplex, wird selten gelehrt (siehe Kapitel Männer als Väter) und birgt auch Risiken zur Entwicklung psychischer Störungen durch Frustrationen, Vereinsamung und chronischen Stress.
Während sich feministisch orientierte Frauen seit Jahrzehnten als Opfer gerieren können und auf Mitgefühl und Empathie stoßen, ist dies für moderne Männer – auch in ihren Partnerschaften – oft nicht gegeben. Selbst und gerade wenn sie sich anstrengen, die Fesseln des alten Patriachats für ihr eigenes Leben zu überwinden, der Mehrfachbelastung in Beruf und Haushalt gerecht zu werden, finden sie oft keine Anerkennung und kein Verständnis für ihre Situation, die voller Stress, Mehrfachbelastungen und Versagensängsten sein kann.
Männer finden in ihrer Lage mit den mehrdimensionalen Anforderungen kaum Anklang oder werden dafür noch verspottet. Kein Wunder also, wenn sich psychische Symptome bei Männern stärker im Verborgenen abspielen. Dass Männer in ihren heutigen Lebenslagen Verständnis und Gehör finden, ist ein zentrales Anliegen von MMH.
Auswahl relevanter psychischer Störungen mit Relevanz für Männer
Im Folgenden wird ein Überblick zu den psychischen Störungsbildern gegeben, die für Männer in verschiedenen Lebenskontexten wichtig sein können. Insgesamt werden – je nach Differenzierungsgrad zwischen 15 (DSM-5; oberste Analyseebene) und einigen Hundert psychischen Störungen unterschieden. Die meisten der psychischen Störungen unterscheiden sich hinsichtlich der Prävalenzen (Häufigkeiten) zwischen Männern und Frauen.
Aber welche psychischen Leiden weisen Männer konkret häufig auf? Da psychische Störungen stets biopsychosoziale Ursachen aufweisen, gilt es, die verschiedenen Einfluss- und Risikofaktoren zu berücksichtigen. Im Folgenden wird ein Überblick zu den wichtigsten und häufigsten psychischen Störungen bei Männern gegeben:
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Suchtstörungen
Der Klassiker bei Männern unter den psychischen Störungen und die häufigste psychische Störung bei Männern überhaupt. Die häufigsten Suchtstörungen sind Nikotin- und Alkoholabhängigkeit, gefolgt von der Abhängigkeit von illegalisierten Drogen (Opioide, Kokain, Amphetamine, Cannabis). Hinzuzufügen sind Verhaltenssüchte, die im ICD-11 zu den Impulskontrollstörungen zählen. Suchtstörungen sind mit Abstand die häufigsten psychischen Störungen bei Männern.
Die Jahresprävalenz für Alkoholstörungen bei Männern beträgt 18%, d.h. etwa jeder sechste Mann erfüllte im letzten Jahr die Kriterien einer Alkoholstörung (Abhängigkeit oder Missbrauch). Hinzu kommen ca. 10.8% für Nikotinabhängigkeit (2016) und 2% für Drogenabhängigkeit. Drogenkonsum hat bei Männern und Frauen oft unterschiedliche Ursachen. Bei Männern spielen soziale Motive (Mittrinken, Dazugehörigkeit, Konformität) oft eine besonders große Rolle.
Auch dient der Alkoholkonsum auch zur Reduktion von Ängsten, Spannungen und negativen Gedanken ebenso wie zur Erhöhung des Selbstwertgefühls. Männer haben Drogen gegenüber eine positivere Einstellung als Frauen, sind experimentierfreudiger mit Drogen und gehen eher Risiken ein. Gerade die Überschreitung von Grenzen und Verboten kann für männliche Jugendliche ein wichtiger Anreiz sein.
Mit Hilfe von Drogen kann Männlichkeit dargestellt und inszeniert werden. Dadurch werden Männer von der ungerechten Drogengesetzgebung, die in der Praxis vor allem die Kleindealer und Süchtigen erwischt und bestraft, besonders hart getroffen (siehe hierzu auch Deutsche Drogenpolitik im Dornröschenschlaf? – Diachrone Betrachtungen aus der Kultur- und Sozialgeschichte).
Erwin trinkt seit zwölf Jahren täglich Alkohol, davor jeweils an den Wochenenden. Auf dem Weg zur Arbeit kauft er sich einen Flachmann als ersten Alkohol am Tage. Er ist der jüngste von zwei Söhnen. Sein Vater war Kraftfahrer und trank an den Wochenenden viel Alkohol. Der Bruder (+ 5 Jahre) hat ebenfalls ein Alkoholproblem, ist aber schon seit 3 Jahren als chronisch mehrfachbelasteter Abhängigkeitskranker in einer Betreuungs- und Pflegeeinrichtung wegen amnestischen Syndroms.
Erwin arbeitet als ungelernte Kraft in einem Ersatzteillager einer großen Autoreparaturwerkstatt. Öfters muss er Schalterdienst übernehmen. An solchen Tagen fühlt er sich besonders belastet und trinkt schon in der Frühstückspause einen zweiten Flachmann. Nach Feierabend nimmt er an einer nahe gelegenen Trinkhalle meist noch 3-4 Bier zu sich.
Erwin ist verheiratet mit Anni (38 Jahre), die halbtags als Verkäuferin tätig ist. Das Ehepaar hat 2 Kinder (Mädchen) im Alter von 15 und 12 Jahren. Anni ermahnt Erwin fast täglich mit sanften Worten, nicht so viel zu trinken. Zum Abendbrot gibt sie ihm meist eine Flasche Bier mit dem Hinweis, mehr gebe es nicht. Im Verlauf des Abends schläft Erwin oft vor dem Fernseher ein. Manchmal geht er noch in seine kleine Kellerwerkstatt, wo er den einen oder anderen Flachmann versteckt hat. Die beiden haben schon lange keine Sexualität mehr miteinander. Wenn Erwin mit Anni schlafen möchte, weist sie ihn zurück und sagt, dass sie nicht könne.
Am Wochenende geht er gerne zum Fußballstadion. Er selbst meint, dass er keine engen Freunde hat. Es gäbe jedoch einige Kumpels, mit denen er nach den Fußballspielen, die sie sich angeschaut haben, noch einen trinken gehe. Zu seinen Töchtern hat er keine enge Beziehung, obwohl sich die Ältere (Sarah) viele Sorgen um ihn macht und oft mit ihrer Mutter diesbezügliche Sorgen in Gesprächen „wälzt“. Er hätte aber gerne einen intensiveren Bezug zu seinen Töchtern, fühlt sich aber gehemmt und befangen, dies mit den Mädchen direkt anzusprechen.
Bei einem Besuch seines Hausarztes eröffnet dieser ihm, dass seine „Leberwerte“ so dramatisch schlecht sind, dass er „etwas tun müsse“, am besten eine Therapie bei einem Psychologen machen, andernfalls werde er kein Jahr mehr zu leben haben. Daraufhin drängt Anni Erwin, einen Termin zur Psychotherapie auszumachen. Sie sagt, dass sie die Angst und Sorgen um ihn nicht mehr aushalte und sich andernfalls trenne.
Erwin muss erst durch die schlechte Nachricht seines Hausarztes „aufgerüttelt“ werden, um sich von seiner Sucht befreien zu können. Aber der Weg in die Psychotherapie kann für ihn zu einem wichtigen Wendepunkt in seinem Leben werden. Zunächst geht er unwillig und eher unmotiviert zu seinen Therapiesitzungen.
Schnell merkt er jedoch, dass sein Psychotherapeut ihn gut versteht. So gut wie noch nie irgendjemand in seinem Leben. Und hinzu kommt, dass er nicht nur mit ihm über sein Alkoholproblem redet, sondern alle Themen, die ihn belasten. Nach und nach wird Erwins Leben besser und er kann auf den Alkohol verzichten, wo er mehr Angstfreiheit, Selbstsicherheit und Lebensfreude gewinnt.
Mehr als die Hälfte der Alkoholabhängigen schafft es in Deutschland durch eine Therapie (ambulant oder stationär) wieder in ein besseres Leben.
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Affektive Störungen (Depressionen)
Mathias leidet seit einigen Monaten an Schlaflosigkeit, Lust- und Antriebslosigkeit, ist oft schlecht gelaunt und reizbar.
Er ist seit 8 Jahren verheiratet und Vater zweier Töchter (6 und 3 Jahre). Mathias hat nach einem erfolgreichen Studium (Medizin), promoviert, eine Facharztausbildung absolviert und sich habilitiert. Er strebt eine Universitätsprofessur an. Dafür hat er bereits intensive Vorarbeiten in Form einiger internationaler Publikationen geleistet.
Er unterstützt trotz seiner Karriereambitionen seine Frau bei Haushalt und Kindererziehung. Zu seinen Töchtern hat er ein intensives und liebevolles Verhältnis. Dies ist ihm besonders wichtig, weil er sich von seiner Mutter, die sehr karrierebewusst gewesen sei, wenig akzeptiert und geliebt gefühlt habe. Sie habe ihn oft alleine gelassen und sei sehr schnell ungeduldig und laut geworden, wenn er etwas falsch gemacht habe.
Bei den beiden Töchtern habe er nach der Geburt jeweils zwei Monate Erziehungsurlaub genommen, was ihm in der Klinik von der Chefärztin im Vier-Augen-Gespräch negativ angekreidet worden sei. Nach drei erfolglosen Versuchen, auf eine Professur in seiner Disziplin berufen zu werden, meint er, dass dies vor allem daran lag, dass er keine Frau ist. In allen Fällen seien Frauen auf den Berufungslisten vor ihm platziert worden. Einmal weil sie besser qualifiziert gewesen sei, ein andermal weil sie bei gleicher Eignung aufgrund der Gleichstellungsregelungen des Landes an Universitäten bevorzugt werden musste. Bei der zahlenmäßigen Übersichtlichkeit seines Fachgebiets weiß er, dass beide Kolleginnen kinderlos waren. Er fühlt sich persönlich diskriminiert und wegen seines Geschlechts benachteiligt.
Er wurde in den letzten Monaten immer negativer und verbitterter und fürchtet, dass er sich bald einen Job außerhalb der Universität suchen muss, da sein jetziger post-doc-Vertrag bald auslaufe und die Universität ihn – um Präzedenzfälle zu vermeiden – nicht verlängern wolle.
Seine Frau (Ärztin) macht sich große Sorgen um ihn insbesondere, weil er immer mehr grübelt und unerreichbar ist, und schlägt ihm intensiv vor, sich psychotherapeutische Hilfe zu suchen. Dies weist Mathias zunächst von sich. Nachdem er aber mit den Töchtern im Alltag immer ungeduldiger wird, stimmt er schließlich zu, weil er ihnen ein guter Vater bleiben will.
Depressionen gehören zu den affektiven Störungen. Dies sind Erkrankungen der Stimmungslage, die in der Regel länger als 3 - 6 Monate anhalten müssen, um eine solche Diagnose zu rechtfertigen. Bis zu 7% aller Männer sind im letzten Jahr an einer affektiven Störung erkrankt. Affektive Störungen können unipolar (Depression, Manie, dysthyme Störung) oder bipolar (Bipolare Störung mit manischen und depressiven Phasen, zyklothyme Störung) verlaufen. Außerdem können sie episodenhaft (mit einer einzelnen Episode oder wiederkehrenden Episode) oder dauerhaft auftreten. Episoden dauern im Regelfall von 6 Wochen bis zu 9 Monaten.
Die häufigste Form einer affektiven Störung ist die unipolare depressive Episode („major depression“). Die Erkrankung wird je nach Schweregrad in eine leichte, mittelgradige oder schwere Verlaufsform unterschieden. Depressionen stellen eine Veränderung des Gehirnstoffwechsels (insbesondere hinsichtlich der Neurotransmitter Serotonin und Noradrenalin) dar. Hinzu kommen kognitive Auffälligkeiten (sogenannte kognitive Triade in Form negativen Denkens in Bezug auf sich selbst, andere und die Zukunft). Oft gibt es genetische Vorbelastungen in der Familie. Aber Depressionen können auch eine intensive, langanhaltende Reaktion auf negative Lebensereignisse (Trennung, Arbeitsplatzverlust, Selbstwertkrisen) darstellen.
Die beiden Entstehungsbereiche von Depressionen – psychosozial und neurobiologisch – schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich vielmehr. Sie können die Risiken verstärken oder abschwächen. Das bedeutet im Detail, dass eine Depression nicht ausschließlich körperliche (neurobiologische) oder psychosoziale Ursachen hat, sondern vielmehr immer auf beiden Seiten nach Ursachen gesucht werden sollte. Gleiches gilt dann für die therapeutische Behandlung, die sowohl die Psyche (Denken, Fühlen, Verhalten) als auch den Gehirnstoffwechsel (Medikation) umfassen sollte. Mit der Depression ist es ähnlich wie mit einer Medaille, die auch immer von zwei Seiten zu betrachten ist (vgl. Prof. Dr. U. Hegerl, Deutsche Depressionshilfe).
Etwa jede vierte Frau und jeder achte Mann ist im Laufe des Lebens von einer Depression betroffen. Frauen erkranken also zwei– bis dreimal so häufig an einer Depression wie Männer.
Die Symptome einer Depression können mannigfaltig sein, so dass die Erkrankung – besonders am Anfang – oft schwer zu erkennen ist. Sie äußern sich in den Bereichen:
Special: Männer und Depression („Male Depression“)
Es gibt schon länger die Annahme einer männerspezifischen Form der Depression („male depression“). Bei dieser dominieren besonders Reizbarkeit und Aggressivität als Abwehrmechanismen gegenüber der depressiven Grundproblematik. Auch Alkohol- und Drogenkonsum als Versuch der Affektmanipulation (antidepressive Effekte) können auftreten.
Die antidepressive Wirkung der Substanzen hält jedoch nicht lange an, und der betroffene Mann muss wieder und nach und nach mehr konsumieren. So kann ein Teufelskreis aus Depressionsbekämpfung und zunehmendem Substanzkonsum entstehen. Für Männer stellt außerdem der Entzug des Kontaktes zu eigenen Kindern nach einer Scheidung (siehe „Parental Alienation Syndrome“ PAS) ein Risiko für eine depressive Erkrankung dar.
Empirisch gesichert ist, dass depressive Männer etwas häufiger von Schlaflosigkeit betroffen sind und mit höherer Gereiztheit reagieren als depressive Frauen. Auf Dauer können auch suizidale Gedanken und Phantasien auftreten („Parasuizidalität“). Männer begehen drei- und viermal häufiger Suizid als Frauen, oft ohne darüber vorher zu sprechen.
Die meisten dieser Männer leiden (unerkannt) an Depressionen. Bei einer Depression empfiehlt sich eine intensive Psychotherapie (ambulant oder stationär), oft anfangs in Kombination mit einer antidepressiven Medikation. Begleitend sollte auch Sport wegen seiner antidepressiven Wirkung betrieben werden.
Eine der männlichen Depression nicht unähnliche Form einer psychischen Störung, die langanhaltend sein kann und mit starker Vereinsamung einhergeht, ist die Verbitterungsstörung.
3
Angststörungen
Angststörungen sind die häufigsten psychischen Störungen in der erwachsenen Bevölkerung (Jahresprävalenz: 16.2% für alle, 22.6% für Frauen, 9.7% für Männer). Die mit Abstand häufigste einzelne Angststörung sind die Phobien: Eine übertriebene, irrationale, schwer oder gar nicht kontrollierbare Furcht vor Situationen, Objekten oder anderen Menschen.
Bezieht sich die Furcht auf das Kennenlernen oder das Sprechen vor anderen Menschen, handelt es sich meist um eine Sozialphobie. Von dieser sind 4-5% der erwachsenen Männer betroffen. Oft waren sie schon in Kindheit und Jugend besonders schüchtern und zurückgezogen.
Weitere Angststörungen sind die Panikstörung (mit und ohne Agoraphobie), die Generalisierte Angststörung (GAS), Zwangsstörung (bestehend aus Zwangshandlungen und/oder Zwangsgedanken) sowie die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS).
Kernmerkmal jeder Angststörung ist die psychophysiologische Übererregung und die Entwicklung von Vermeidungsverhalten, um der Angst zu entgehen oder sie nach außen gegenüber anderen zu verheimlichen. So kann es sein, dass ein sozial ängstlicher Mensch Treffen mit unbekannten oder wenig vertrauten Menschen immer wieder unter letztlich vorgeschobenen Gründen absagt. Auch dass Betroffene ihre Wohnung kaum oder gar nicht mehr verlassen, kann Anzeichen für eine Angsterkrankung sein.
Oft werden sie aus Scham die wahren Gründe und das Ausmaß ihrer Ängste nicht preisgeben. Je nach Angstsymptomatik können weitere Symptome hinzukommen, wie z.B. Schlaflosigkeit, Alpträume, Misstrauen, plötzliches Erschrecken usw. Durch die hohe Zahl angsterkrankter Personen sind besonders Prävention und Frühintervention wichtig. Diese kann durch Stärkung des Selbstwertgefühls, körperliches Training, soziales Kompetenztraining und kognitive Übungen gelingen.
Ist die Angstproblematik zu stark, empfiehlt sich eine Psychotherapie. Besonders Männern kann es schwerfallen, Ängste einzugestehen, so dass sie initial Ermunterung dazu brauchen. Wichtig ist zu erkennen, dass Angststörungen kein Zeichen von Schwäche sind, sondern dass es sich um eine psychische Erkrankung handelt, bei der die Emotionsregulation und die Verarbeitung von Reizen dauerhaft gestört sind.
Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) gehören ebenfalls zu den Angststörungen. Traumatisierungen hinterlassen Spuren in der menschlichen Psyche. Da das Gehirn nichts wirklich vergessen kann, verzerrt und verdrängt es Erinnerungen, spaltet sie ab oder deutet sie um. Auch können Gedächtnisspuren über Jahre oder Jahrzehnte nicht zugänglich sein, so dass sich Symptome ohne direkte Erinnerungen an die Auslöser bilden.
Die Traumaforschung der letzten Jahrzehnte hat eindrucksvoll gezeigt, welch dauerhafte Spuren Traumatisierungen im Leben von Menschen und sogar über Generationen hinterlassen können. Diese können sich sogar im Erbgut (epigenetische Effekte) niederschlagen. Da Traumata in der Regel mit dem Erleben von Angst verbunden sind, ist hier ein wesentlicher Ansatzpunkt zur Behandlung von Traumatisierungen.
Nicht alle Traumata führen zu späteren psychischen Störungen. Insbesondere Traumata, die mit Misshandlung, Missbrauch oder Vernachlässigung in Kindheit und Jugend zusammenhängen, können zu schweren psychischen Beeinträchtigungen führen. Wenn ein Kind erlebt, dass es keine Kontrolle über sich hat und missbraucht oder misshandelt wird, zerstört dies Bindungs- und Sicherheitserleben und vermittelt dem Kind, dass es anderen schutzlos ausgeliefert ist. Dieses Gefühl hängt mit starkem Angsterleben, Verzweiflung, Sinnlosigkeitserleben und Hoffnungslosigkeit zusammen.
Kann die Person das Trauma nicht überwinden, bildet sich eine Posttraumatische Belastungsstörung heraus. Diese ist neben den allgemeinen Symptomen einer Angsterkrankung besonders durch Alpträume und Intrusionen (sich aufdrängende, traumaassoziierte Vorstellungen und Bilder) gekennzeichnet. Bei diesen Symptomen erlebt der Einzelne wiederum, dass er sie nicht kontrollieren kann, so dass sich Ängste aufbauen und verstärken. Dann werden bestimmte traumaassoziierte Situationen, Orte und Handlungen vermieden, um dem emotionalen Kontrollverlust zu entgehen.
Nils war schon ein ängstliches Kind nach Aussage seiner Eltern. Er erschreckte sich sehr schnell und oft. Daher musste er in vielen Situationen in seinen ersten Lebensjahren von der Mutter getröstet werden.
Während seiner Grundschulzeit zog er sich oft von den wilden Spielen anderer Jungen zurück. Bald wurde er gehänselt und zunehmend gemobbt. Die Lehrer schützten ihn nicht vor den Attacken anderer Kinder. Nils kam zu dem Schluss, dass er sie einfach nicht interessierte und dass ihn ohnehin niemand mochte. Auf dem Gymnasium, das er aufgrund seiner hohen Intelligenz und seines Lernwillens zunächst mühelos absolvierte, wiederholten sich die Vorgänge von der Grundschule. In der Pubertät interessierte er sich für Mädchen seiner Klasse und auch in der Klasse darunter. Er erhielt von jeder eine Abfuhr, weil sein Image als „Hasenfuß“ inzwischen schulbekannt war. Aus Frust aß er immer mehr und nahm an Gewicht zu. Dies machte ihn in den Augen der Mädchen noch unattraktiver.
Seine Eltern machten sich zunehmend Sorgen um ihn, ließen ihn aber auch wegen ihrer Arbeit viel alleine. Beide arbeiteten in ihren akademischen Berufen sehr engagiert und hatten jeweils schon eine beachtliche Karriere als Journalist (Vater) und Rundfunksprecherin (Mutter) hingelegt. Seine Mutter riet ihm, mehr Sport zu treiben und wollte ihn unbedingt in einem Verein anmelden, was er heftig ablehnte.
In der Oberstufe ließen seine Leistungen deutlich nach. Er hatte sich immer mehr Computer- und Onlinespiele angewöhnt und verbrachte viele Nächte damit. Seine vielen Alltagsängste konnte er dabei vergessen und er wählte Avatare, die besonders männlich und stark erschienen. In den Strategie- und Shooterspielen konnte er sich intensiv austoben und fühlte sich sorgen- und angstfrei. Er bemerkte auch, dass er immer seltener das Haus verließ und sich draußen zunehmend unwohl fühlte.
Er fiel bei zwei Anläufen hintereinander durchs Abitur und ging schließlich von der Schule ab. Sein Vater vermittelte ihm eine Ausbildungsstelle in einem EDV-Fachbetrieb als Fachinformatiker. Nils findet die Ausbildung interessant und spannend, hat aber immer größere Probleme mit seinen Alltagsängsten. Diese beziehen sich auf fast alle Dinge des täglichen Lebens, nunmehr besonders auf die Kolleginnen und den Kollegen und den Chef in der Firma.
Schließlich wird alles so schlimm, dass er die Ausbildung unterbrechen muss. Seine Eltern wollen nun, dass er in eine psychotherapeutische Behandlung geht. Sie haben sich im Internet informiert und sagen ihm, dass er an einer generalisierten Angststörung leidet und dass es ihnen leid tut, dass sie dies nicht früher erkannt hätten. Nun müsse er aber dringend etwas für sich tun. Nils stimmt diesem Vorschlag zu und fasst etwas Hoffnung, dass es für ihn endlich besser werden könnte.
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Persönlichkeitsstörungen
Unter Persönlichkeitsstörungen (PS) werden dauerhafte, unflexible und gesellschaftlich abweichende Verhaltensweisen verstanden. Diese Verhaltensmuster entwickeln sich oft vor dem Hintergrund biographisch früher Störungen und Traumatisierungen in Kindheit und Jugend. Deshalb werden sie auch bisweilen „Frühe Störungen“ genannt. Diese führen in der Regel zu Beziehungsproblemen, wobei die Betroffenen den Eindruck haben, dass sie selbst „okay“ sind, ihr Gegenüber sich aber nicht adäquat verhalte.
Hauptmerkmale von Persönlichkeitsstörungen
Neben den auftretenden Beziehungsproblemen, die ein Kardinalmerkmal von PS darstellen, gibt es eine Reihe weiterer relevanter Symptome. Zentral ist eine unkritische, gestörte Selbstwahrnehmung. Diese resultiert aus einer starken Unfähigkeit zur Selbstdistanzierung und -kritik.
Dieses als Ich-Syntonie bezeichnete Phänomen der problematischen Selbstwahrnehmung führt zu anhaltenden sozialen Interaktionsproblemen und verhindert Krankheitseinsicht bei den Betroffenen. Bei Depression und Angst entwickeln die Betroffenen meist einen hohen Leidensdruck und fühlen sich „nicht okay“ (Ich-Dystonie). Solange persönlichkeitsgestörte Menschen keine Einsicht in die Wirkung des eigenen Verhaltens entwickeln und dies auch kritisch reflektieren können, bleibt ihnen auch der selbstkritische Zugang zu sich selbst verwehrt.
Ein weiteres wichtiges Merkmal von Persönlichkeitsstörungen ist die mangelnde Flexibilität des Verhaltens. Das auffällige Verhalten ist meist rigide und tritt kontextunabhängig auf. Wird jemand etwa wegen seines Verhaltens auf der Arbeitsstelle gemobbt und es liegt eine Persönlichkeitsstörung vor, so wird er auch auf der nächsten und übernächsten Arbeitsstelle auffällig sein und ebenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit Mobbing erleiden.
Verhaltensprobleme wiederholen sich also in verschiedenen sozialen Kontexten wegen der mangelnden Anpassungs- und Veränderungsfähigkeiten der Betroffenen. Außerdem beginnen Persönlichkeitsstörungen sehr früh im Leben von Menschen und werden deshalb auch als „frühe Störungen“ bezeichnet.
Drei Hauptgruppen von Persönlichkeitsstörungen – Clustermodell des DSM
Daher führt diese Störung alleine auch selten zu Leidensdruck, meist aber zu Beziehungsproblemen mit anderen Menschen. Im DSM-5 (2013), dem diagnostischen und statistischen Manual psychischer Störungen der American Psychiatric Association (APA), werden zehn Persönlichkeitsstörungen unterschieden, die wiederum drei Clustern zuzuordnen sind. Zwischen 10% und 12% der erwachsenen Bevölkerung erfüllen die Kriterien einer Persönlichkeitsstörung. In einem guten Drittel dieser Fälle liegen gleichzeitig zwei oder mehr Persönlichkeitsstörungen vor.
Die drei Cluster der Persönlichkeitsstörungen sind:
Geschlechtsunterschiede bei Persönlichkeitsstörungen
Wie bei vielen anderen psychischen Störungen weisen auch etliche Persönlichkeitsstörungen Geschlechtsunterschiede in der Bevölkerungsprävalenz auf. Im Cluster A finden sich mehr Männer als Frauen. Diese Störungsbilder haben im weitesten Sinne mit Sonderlingen, Exzentrikern und Gurus zu tun. Sie passen insofern auf bei Männern häufiger gefundenen Auffälligkeiten (siehe auch Extremitätshypothese). Im Cluster B weisen mehr Männer die Merkmale einer antisozialen Persönlichkeitsstörung (ASP) auf. Dies ist auch unter dem Begriff dissoziale Persönlichkeitsstörung bekannt.
Eine extreme Form der antisozialen Persönlichkeitsstörung ist die Psychopathie. Borderline und Histrionische Persönlichkeitsstörungen finden sich häufiger bei Frauen. Bei weiblichen Patientinnen wird vorzugsweise der Borderline-Subtypus der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung nach ICD-10 diagnostiziert, während bei männlichen Patienten häufig die impulsive Unterform der Störung vorliegt.
Die narzisstische Persönlichkeitsstörung weist sehr heterogene Erscheinungsformen auf. Die klassischen Formen des männlichen Narzissten, der nach außen positiv gestimmt erscheint, sind aufzuschneiden, sich stets in den Mittelpunkt zu drängen, sich machthungrig zu verhalten und sich massiv zu überschätzen, andere offen abzuwerten, zum eigenen Vorteil zu lügen und zu manipulieren. Auch chronischer Neid auf andere, überzogene Kränkbarkeit und die Vorstellung, in seiner Grandiosität und Einzigartigkeit keine Anerkennung zu finden, können Symptome eines eher negativ gestimmten Narzissten sein.
Bei Narzissmus wird von einem schwachen, fragilen Ich ausgegangen, das sich besonders stark schützt und überkompensierende Verhaltensweisen produziert.
Weiblicher Narzissmus äußert sich im Unterschied zu männlichem in subtil-manipulativem, perfektionistischem, übertrieben selbstbezogenem Verhalten.
Bei den Persönlichkeitsstörungen des Clusters C finden sich mehr Männer mit dem zwanghaften Störungsbild (penibel, überkorrekt, perfektionistisch, übermäßig pflichtorientiert, angespannt), während mehr Frauen das Muster mit dependenten oder selbstunsicheren Verhaltensweisen zeigen.
Zehn oder Millionen von Persönlichkeitsstörungen?
Es werden noch weitere relevante Persönlichkeitsstörungen in Forschung und Praxis diskutiert, z.B. die depressive Persönlichkeitsstörung, negativistische Persönlichkeitsstörung, passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung, querulatorische Persönlichkeitsstörung usw. Grundsätzlich sind die im DSM-5 derzeit anerkannten zehn Persönlichkeitsstörungen die nach Expertenmeinung relevantesten.
Da jede menschliche Persönlichkeit eine einzigartige Konstellation vieler Einzelmerkmale und Verhaltensweisen darstellt, kann es theoretisch so viele Persönlichkeitsstörungen wie auch Persönlichkeiten geben. Es werden deshalb auch immer wieder einzigartige, seltene Konstellationen von Symptomatiken auftreten, die auch eine spezielle Persönlichkeitsstörung im Kontext eines einzigartigen Menschen darstellen.
Auch Mischformen von einzelnen Persönlichkeitsstörungen treten nicht selten auf. Dies stellt dann eine Komorbidität verschiedener Persönlichkeitsstörungen dar. Bei Männern sind neben den antisozialen, narzisstischen, zwanghaften und bizarr-sonderbaren Verhaltensweisen in Persönlichkeitsstörungen besonders jene häufig, die mit externalisierenden Problemverhaltensweisen zu tun haben. Darunter fallen vor allem soziale Verhaltensstörungen, Hyperaggressivität, Hyperaktivität.
Persönlichkeitsstörungen als extreme Persönlichkeitsstile
In einer dimensionalen Betrachtung stellen Persönlichkeitsstörungen extreme Formen normaler Persönlichkeitsstile dar. Dies bedeutet, dass einzelne Aspekte im Verhalten weit über dem normalen Maß liegen, dass die gezeigten Merkmale im Grunde aber nur übermäßig starke Ausprägungen der Persönlichkeitsdimensionen sind, die alle Menschen teilen. Diese Sichtweise kann helfen, die oft unverständlichen Verhaltensweisen der betroffenen Menschen im weitesten Sinne verstehbar zu machen und sinnhaft erscheinen zu lassen.
Da die Symptome von Persönlichkeitsstörungen meist als negativistisch und abzulehnend wahrgenommen werden, ist es wichtig, ihre Sinnhaftigkeit im Kontext ihrer individuellen Genese in der Kindheit der betroffenen Personen zu erkennen und im weitesten Sinne zu würdigen. In diesem Kontext wird dann auch bewusst von einem extremen Persönlichkeitsstil und nicht von einer Persönlichkeitsstörung gesprochen, um eine empathische und verstehende Umdeutung („Reframing“) zu ermöglichen.
Exemplarische stark ausgeprägte Persönlichkeitsstile
Im Einzelnen können exemplarisch folgende Persönlichkeitsstörungen in übersteigerte Persönlichkeitsstile umgedeutet werden:
Der paranoide Stil entspricht einem sehr wachsamen Stil. Er passt zu Menschen, die viele Bedrohungen, Lügen und Enttäuschungen erlebt haben und rechtfertigt so ihr tief verwurzeltes Misstrauen.
Der schizoide Stil ist ein stark ungeselliger Stil. Diese Menschen werden als abweisend, sonderbar, zurückgezogen und schroff wahrgenommen. Ihr Sozialverhalten passt nicht zu den üblichen Normen. Er passt zu Menschen, die viel Ablehnung und Zurückweisung erfahren haben und die in frühen Sozialbeziehungen immer wieder enttäuscht oder vernachlässigt wurden.
Der schizotype Stil und entspricht einem exzentrischen Stil bei Menschen, die entweder viel tun mussten, um Aufmerksamkeit und Zuwendung zu bekommen oder denen genau dieser Stil von den Eltern als wünschenswertes Verhalten vorgelebt wurde. Die Exzentrizität ist ein Versuch, Aufmerksamkeit und Zuwendung zu erlangen. Gleichzeitig herrscht aber Angst und Unfähigkeit in Bezug auf enge persönliche Beziehungen vor.
Der antisoziale Stil kann auch als abenteuerlicher Stil interpretiert werden. Die Person geht immer wieder Risiken ein, kümmert sich übermäßig um sich selbst und verweigert anderen Anerkennung und Respekt. Die eigenen Bedürfnisse stehen auf Kosten anderer im Vordergrund. Die Manipulationstechniken können durchaus von Charme und vordergründiger Anpassung gekennzeichnet sein. Oft geht es auch um Sensations- und Reizhunger (thrill seeking behavior).
Die von Borderline-Persönlichkeitsstörung betroffenen Menschen weisen einen sprunghaften, sehr spontanen Stil auf. Ihnen wurde oft keine emotionale Sicherheit geboten, frühe traumatische Erfahrungen tauchen oft auf, die Bindung zur Mutter war unsicher und von Brüchen und Enttäuschungen gekennzeichnet. Das sprunghafte, emotional intensive und wechselhafte Verhalten ist Ausdruck innerer Ich-Schwäche und Suche nach Halt und Sicherheit zugleich.
Die histrionische Persönlichkeitsstörung kann als Extremform eines dramatischen Persönlichkeitsstils beschrieben werden. Dabei macht eine Person durch besonders extreme emotionale Verhaltensweisen auf sich aufmerksam, will Zuwendung, Beruhigung und Trost. Das Verhalten erscheint unstillbar und tritt deshalb in vielen Situationen und immer wieder von neuem auf.
Die narzisstische Persönlichkeitsstörung wird als extreme Ausprägung eines selbstbewussten Persönlichkeitsstils gesehen. Das Ich der Person steht für sie selbst absolut im Vordergrund, braucht Aufmerksamkeit, Zuwendung und Bestätigung und lässt keinen Platz für andere.
Die selbstunsichere Persönlichkeitsstörung kann als die Extremform eines sensiblen Persönlichkeitsstils gesehen werden. Dabei sind dem Individuum so viele Zweifel in Bezug auf das eigene Handeln bewusst, dass es durch die vielen möglichen Sichtweisen auf Fehlentscheidungen immer wieder in Unsicherheit gerät. Es ist nicht in der Lage, die vielen möglichen Fehler, die man im alltäglichen Handeln begehen kann, aus seinem Denken auszublenden und sich für einen Weg zu entscheiden. Diese hypersensiblen intrapsychischen Prozesse erzeugen immer wieder selbstzweiflerische Kognitionen und ängstliche Emotionen.
Die dependente Persönlichkeitsstörung zeigt sich in einem überaus anhänglichen, treuen Stil. Dabei tolerieren die Menschen auch Enttäuschungen und Verletzungen von der Person, auf die sie sich fixiert haben. Es handelt sich um ein Verhaltensmuster, das vordergründig als reine Ohnmacht, Angst vor Alleinsein und Abhängigkeit verstanden werden könnte. Tiefer betrachtet erlangen die Betroffenen durch Leiden und Selbsterniedrigung aber auch viel Kontrolle über den Partner oder andere Personen, auf die sich die Dependenz bezieht.
Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung kann als stark gewissenhafter, korrekter Verhaltensstil verstanden werden, bei dem es um eigene übersteigerte Ansprüche hinsichtlich Ordnung, Sauberkeit oder Kontrolle geht. Die Vorgaben an andere sind in deutlicher Weise grenzüberschreitend und unpassend.
Mario (43) ist seit acht Jahren mit Mia (41) liiert. Er lernte sie über eine Partnerschafts-Website kennen, nachdem ihn seine Frau wenige Monate zuvor wegen eines anderen Mannes verlassen hatte. Zunächst war er nach dem Verlassenwerden in eine depressive Befindlichkeit gestürzt. Er fand Mia vom ersten Tag an faszinierend. Sie verzauberte ihn mit allem, was sie sagte und machte. Vor allem begeisterte ihn die Sexualität mit Mia. Er erlebte sie als hemmungslos, intensiv und ekstatisch.
Ihm gefiel ihre emotionale Intensität in allen Situationen und er bewunderte sie für ihre Lebendigkeit. Mario selbst ist eher ernster Natur, scheu und introvertiert. Beruflich ist er sehr erfolgreich im Bereich Webdesign. Nach zwei Jahren Beziehung mit Mia kam es zu einem ersten Konflikt, als er sie kritisierte, weil sie einige seiner beruflichen Unterlagen weggeworfen hatte. Ab diesem Zeitpunkt änderte sich ihr Verhalten ihm gegenüber drastisch.
Sie war jetzt oft hyperkritisch und aggressiv ihm gegenüber. Der Sex wurde schlechter oder fand gar nicht mehr statt. Mia zog sich von ihm zurück, kontaktierte wieder alte Freunde und Ex-Partner und machte in Marios Augen alles, um ihn zu verletzen. In wenigen Momenten, vor allem wenn er ihr Geschenke machte, war sie wie am Anfang, meinte er, war sich dessen aber nie ganz sicher. Sie zerstörte, wenn sie sich stritten, was jetzt immer häufiger geschah in ihrem Zorn Dinge von ihm, einmal seinen Laptop, einmal einen Bierkrug seines Großvaters. Ihre Konflikte wurden immer häufiger und intensiver.
Schließlich warf sie in einem Streit mit Tassen und Tellern auf ihn, schrie ihn an, dass sie ihn hasse und schloss sich anschließend stundenlang im gemeinsamen Schlafzimmer ein. In dieser Phase begann er wegen der extremen Unzufriedenheit mit seiner Partnersituation und aufkommenden Selbstwertkrisen eine ambulante Psychotherapie. Als sie in einem weiteren Streit mit einem Messer auf ihn losging, bekam er so viel Angst, dass er nach Rücksprache mit seinem Psychotherapeuten notfallmäßig in ein Hotel zog.
Ab diesem Tag merkte er, dass sein Leben ohne Mia für ihn viel stressfreier war. Er liebte sie zwar noch immer, hatte aber auch Angst, dass es, wenn er wieder zurückkehrte, noch schlimmer würde. Also reichte er nach einigen Tagen der Trennung die Scheidung ein und führte die schon vor einigen Monaten begonnene Psychotherapie fort.
Abschluss und weiterführende Hinweise
Neben den ausführlich dargestellten vier häufigsten psychischen Störungen (Angststörungen, Depression, Sucht und Persönlichkeitsstörungen), welche die Hauptlast der psychischen Störungen der Bevölkerung ausmachen, gibt es noch eine Vielzahl weiterer psychischer Störungen.
Für Männer von besonderer Relevanz können Störungen des Sozialverhaltens in Kindheit und Jugend (siehe Kapitel Jungen), Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung in Kindheit und Erwachsenenalter (ADHS) sein. Bei einer vorliegenden psychischen Störung haben Menschen im Regelfall Anspruch auf Psychotherapie als Krankenkassenleistung.
Nähere Informationen zur Psychotherapie, speziell für Männer, finden Sie unter hier. Allgemeine Informationen zur Psychotherapie an dieser Stelle. Psychotherapien können inzwischen in vielen Fällen auch als Online-Therapien oder in Hybrid-Form durchgeführt werden. Es gibt seit mehr als 50 Jahren eine Fülle von Wirksamkeitsstudien für Psychotherapie, insbesondere Verhaltenstherapie, die gute bis sehr gute Ergebnisse zeigen.