Männliche Archetypen - mehr als Märchenfiguren
In jedem Mann finden sich bestimmte Anlagen, Grundmuster und Potentiale für einen positiv reifenden, kraftvollen, starken und sozial resonanten Mann. Diese männlichen Qualitäten manifestieren sich in den sieben - oder je nach Differenzierungsgrad mehr - Archetypen und ihren Essenzen, die der Mann für seine eigene Entwicklung braucht, um eine erfüllte Beziehung zu führen und seinen Beitrag zum Wohl der Gesellschaft zu leisten.
Zu den Essenzen, die als Grundlagen der Archetypen gelten können, gehören:
Die klassischen Archetypen und ihre Bedeutung für die heutige Welt des Mannes werden weiter unten besprochen.
Fehlende Väter und männliche Modelle
In früheren Kulturen waren die Entwicklungsschritte von Männern und Frauen meist in Form von Initiationsprozessen ritualisiert und wiesen so dem heranreifenden Mann einen sicheren Weg zu seiner Identität, Würde und Beziehungsfähigkeit. Von ihren Vätern und Großvätern lernten Jungen den Weg zum Mannsein und damit zur Selbstbehauptung und Durchsetzung, von ihren Müttern und Großmüttern den Weg ins soziale Leben, zu ihren Gefühlen und zu anderen Menschen.
Heute sind Männer in unserem Kulturkreis oft überfordert und verunsichert. Es fehlen oft die wegweisenden Väter und Männer als Modelle und sichere Garanten für den richtigen Weg ins Mannsein. Viele Männer entdecken dann erst in der Mitte ihres Lebens in Krisen – wie Trennung, Scheidung, Arbeitsplatzverlust -, dass ihnen etwas fehlt und dass sie ihre Potentiale als Mann nicht umfassend entwickelt und sich selbst nicht tief genug verwirklicht haben.
Sie kennen sich selbst wenig, haben Identitätsprobleme, fühlen sich „tief drinnen“ ängstlich und verunsichert. Oft reagieren sie darauf mit noch mehr Verschlossenheit, Rückzug und Einsamkeit. So dauert es bis weit über die Lebensmitte hinaus, bevor sie sich für den inneren Weg des Mannseins öffnen. Dieser führt dann zu einem genaueren Kennenlernen, mehr Selbstreflektion und mehr Authentizität. Es geht um abgespaltene Emotionen, verdrängte Ängste und eine bessere Selbstfürsorge und Selbstbehauptung.
Rollen als Leitplanken durchs Leben
Die archaischen Rollen von Männern also solche, die sie über viele Hundertausende von Jahren in den Frühgesellschaften innehatten und ausführten, haben die biologische und soziale Evolutionsgeschichte des Mannes tief geprägt und Spuren im kollektiven Unbewussten der Völker hinterlassen. Diese Spuren finden wir heute in Mythen, Sagen und Märchen.
Das stellt jedoch keinen Grund dar, diese Archetypen in ihrer heutigen Bedeutung gering zu schätzen. Sie spielen nämlich eine wichtige Rolle für die Identitätsfindung jedes modernen Mannes, der die biologische Ausstattung eines Steinzeitmannes in der psychosozialen Karosserie eines modernen Hybridautos aufweist. Die Kernaufgaben und –rollen des Ur-Mannes finden sich in diesen Archetypen wieder. Auf der Ebene der sieben Archetypen werden unterschieden: Der Heiler, der Vater, der Krieger, der wilde Mann, der Liebhaber bzw. Liebende, der Mystiker und der König. Es handelt sich also um ein erweitertes Modell der vier grundlegenden Archetypen.
Dies heißt nicht, dass der moderne Mann nicht noch mehr Rollenoptionen hat. Im Gegenteil: Ja, er soll sich differenzieren, entwickeln, selbst verwirklichen. Doch der Weg zur differenzierten, selbstbewussten Männerpersönlichkeit führt über die primären archetypischen Rollen.
Nach dieser Theorie begegnet ein Mann auf seiner Suche nach Identität sieben Kernthemen, denen jeweils eine Rolle entspricht. Im Einzelnen sind dies:
Thema/ Anforderung an den Mann | Rolle/ Archetyp | |
---|---|---|
Mitgefühl, Verletzbarkeit | Heiler | |
Stärke, Unterstützung | Vater | |
| Krieger | |
Freiheit, Wildheit | Wilder Mann, Jäger | |
Liebe, Sexualität | Liebhaber, Partner | |
| Mystiker, Lehrer | |
Werte, Führerschaft | König, Lenker |
Um diese Rollen, die zu sicheren Identitäten führen können, zu entfalten, braucht der Mann - da er die Extreme bevorzugt - Grenz- und Intensiverfahrungen in verschiedenen einzelnen Bereichen. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Balance der verschiedenen Rollenanteile, damit keine Rolle zu sehr dominiert. Wenn ein Mann etwa zu sehr die Rolle der Führerschaft entwickelt, wird er einseitig dominant und vernachlässigt die wichtigen Bereiche Weisheit, Werte, Freiheit usw. Er muss einerseits seine besonderen Talente und Potentiale entdecken, ausbauen und vertiefen, ohne andererseits die Balance seiner Rollen aus dem Auge zu verlieren.
Diese Balance der verschiedenen Archetypen kann z.B. gezielt in männerspezifischen Selbsterfahrungsgruppen und Psychotherapie vertieft und entwickelt werden. Jeder Mann wird in einem oder wenigen Archetypen seinen Schwerpunkt entwickeln, sollte aber die anderen Bereiche nicht vernachlässigen.
Noch mehr Archetypen?!
Es wird bisweilen auch zwischen mehr Archetypen, z.B. zwölf, unterschieden. Diese sind dann: Der Schöpfer, der Herrscher, der Zerstörer, der Suchende, der Krieger, der Narr, der Magier, der Gebende, der Liebende, der Verwaiste, der Unschuldige, der Weise. Prinzipiell lässt sich die Zahl der Archetypen ins Unermessliche steigern in Abhängigkeit von Ziel und Differenzierungsgrad der Typologie.
Im Hintergrund für die Lehren der sieben und zwölf Archetypen mag eine unreflektierte und empirisch nicht zu bestätigende Vorliebe für magische Zahlen stehen. Pragmatisch wichtig ist eine kognitiv noch zu bewältigende Zahl von Archetypen – also eher sieben als zwölf - und der gelingende Transfer der angestrebten Aspekte der Archetypen in Alltag und Praxis. Begrenzen Sie also besser am Anfang die Zahl der Archetypen, auf die Sie blicken und die Sie für sich entwickeln und ausbauen wollen.
Archetypen als kultureller Schatz der Völker
Das Konzept der Archetypen wurde von dem Schweizer Psychoanalytiker C. G. Jung 1934 in die Psychotherapie und den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt. Er war einer der Schüler Sigmund Freuds und löste sich später von diesem, um seine eigene Lehre, die Analytische Psychologie, zu begründen. Er war begeistert von der Idee, psychoanalytische und ethnographische Ansätze zu kombinieren und ein tieferes Verständnis des kulturellen Erbes der Völker im Unbewussten zu erlangen.
Unter Archetypen verstand er Inhalte des „kollektiven Unbewussten“ der Völker, die Grundmuster instinktiven Verhaltens. Diese Archetypen finden sich in ähnlicher Form im tradierten Denken aller Völker. Dies spiegelt sich vor allem in Sagen, Mythen und Märchen wieder. Die dort auftauchenden Männerrollen - König, Prinz, Zauberer, Räuber - sind Beispiele für archetypische Männerfiguren. Berühmt geworden und in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen sind Begriffe wie „Animus“, „Anima“, „Schatten“ und „Selbst“. Für die Männerarbeit können Archetypen als kulturelle Urbilder menschlicher, aber auch speziell männlicher, Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster verstanden werden. Diese sind kulturübergreifende kollektive innere Bilder, nach denen Menschen unbewusst handeln und dementsprechend sich ihre Persönlichkeit entwickelt.
Identitätsentwicklung durch Entwicklung eines balancierten Selbst
Durch die Unterdrückung und Nicht-Integration der gegengeschlechtlichen Anteile in jedem Menschen entstehen geschlechtlich übermäßig akzentuierte Teilpersönlichkeiten. Bei dem Mann wird diese unterdrückte Teilpersönlichkeit Anima genannt, bei der Frau ist es der Animus.
Die Anima symbolisiert folgende unterdrückte, traditionell weibliche Handlungsweisen: Kommunikationsfähigkeit hinsichtlich persönlicher Belange, Einfühlungsvermögen, Beziehungsfähigkeit, akzeptierender Zugang zu Körper und Gefühlen, Anpassungsfähigkeit. Der Animus symbolisiert unterdrückte, männliche Eigenschaften, wie Aggression, Triebhaftigkeit, Mut, Risikobereitschaft, Eigeninitiative, Stärke, geistige Selbstständigkeit, Innovationsfreude. Natürlich ist die Balance zwischen diesen beiden Archetypen des Mannes und der Frau wichtig.
Jeder Mann braucht für seine Identität klare männliche Anteile (Animus), darf aber seine weiblichen Anteile (Anima) nicht zu sehr verleugnen, aber auch nicht einseitig überbetonen. Moderne Männer lassen ihre Animus-Anteile oft zu unterentwickelt, bewerten sie negativ und lehnen sie ab, während sie gleichzeitig ihre weiblichen Anteile überbetonen. Dies kann zu Diffusitäten und Widersprüchen in der Identität als Mann führen, bis viele ihr Mannsein schließlich ganz abwehren und geringschätzen. Es kommt aber in Wahrheit auf die gesunde Balance der beiden archetypischen Anteile von Animus und Anima an, um die eigene – auch sexuelle Identität – als Mann zu entwickeln.
Abwehr und Leugnung der Animus- oder Anima-Anteile führen in persönliche Krisen
Die jeweils unterentwickelten männlichen oder weiblichen Anteile werden von Männern, die sich ihrer Identität unsicher sind, geleugnet oder abgewehrt. Die Anima-Anteile sind im Leben von Männern nicht vollkommen zu unterdrücken, daher wirkt ihre übermäßige Unterdrückung auf Dauer negativ auf das Selbst. Über Projektionen auf andere Personen und Gegenstände kehren sie - unerkannt für die Wahrnehmung und das Bewusstsein - zurück.
In dem Maße, in dem ich meine Identität als Mann nicht akzeptiere und lebe, projiziere ich sie auf andere Männer und Frauen und mache sie stellvertretend zu den starken Personen in meinem Leben, z.B. einen vermeintlich „starken Mann“, im schlimmsten Fall einen Führer, den ich in einer Lebenskrise glaube zu brauchen und zum Führer in meinem Leben mache. Dies ist natürlich ein Irrweg des Mannes auf der Suche nach sich selbst.
Es kann aber hilfreich sein, sich für eine gewisse Zeit einem psychologischen und spirituellen Berater anzuvertrauen, der – selbst ausgebildet und reflektiert – mit der besonderen Verantwortung der Führerschaft für einen anderen Mann umgehen kann und ihn in seiner Entwicklung unterstützt. Diese Unterstützung finden Männer vor allem in Psychotherapie und Selbsterfahrung.
Wege zur Identitätsfindung für Männer
Es gibt verschiedene Wege für die Suche nach der spezifisch männlichen Identität. Der Mann sollte zunächst seine männlichen Anteile erkennen und ausbauen, und danach seine weiblichen Anteile zur Kenntnis nehmen, an sich akzeptieren und dann auch ausbauen. Ziel ist eine Balance aus Animus- und Anima-Anteilen. Beim heterosexuellen Mann werden normalerweise die Animus-Anteile überwiegen, ohne dass er seine Anima-Anteile verleugnet. In dem Maße, in dem man sich mit sich selbst versöhnt, versöhnt man sich auch mit seiner Herkunft und seiner Umwelt.
Im Bereich von Anima und Animus ist die Herstellung einer gesunden, ausgewogenen Beziehung zum eigenen Geschlecht unter Berücksichtigung der Anteile des anderen Geschlechts wünschenswert und förderlich. Das eigentliche Ziel der Entwicklung der Persönlichkeit ist die Individuation. Individuation heißt, zu dem Menschen zu werden, der man im Kern durch seine Anlagen und Potentiale ist, und meint einen fortschreitenden Differenzierungsprozess, der die Entfaltung aller Fähigkeiten, Anlagen und Möglichkeiten eines Individuums durch stufenweise Bewusstwerdung und Realisierung des Selbst zum Ziel hat.
Der differenzierte Mann wird dabei nicht zum unkenntlichen Mischwesen aus Animus und Anima, was Androgynie bedeuten würde. Diese ist für die meisten Männer nicht der geeignete Lösungsweg, sondern am Ende ein Irrweg. Auf dem Weg des seines-Selbst-bewusst-werdenden Mannes kann er durch seine Identitätsentwicklung zum differenzierten Mann mit überwiegend klaren und selbst erkannten männlichen Anteilen - wie Stärke, Durchsetzungsfähigkeit, Beschützerfähigkeit – werden, ohne dabei seine weiblichen Anteile verleugnen zu müssen, aber auch ohne sie aus Angst vor anderen Männern und natürlich auch Frauen zu überstimulieren und dadurch zum unerkennbaren, nur diffus entwickelten Mann zu werden.
Wenn Sie Ihre Identität als Mann weiter entwickeln und vertiefen möchten, helfe ich Ihnen mit spezialisierten, professionellen Angeboten wie Psychotherapie, Coaching oder Selbsterfahrung. Diese können im Einzelkontakt (real oder online) oder in der Männergruppe stattfinden. Weitere Informationen zur Psychotherapie und zum Männer-Coaching finden Sie hier.