Immer mehr junge Männer berichten, dass sie keine Erfahrung mit Frauen haben, keine Sexualität erleben und auch keine Partnerin finden. Für diese Männer, die unfreiwillig zölibatär leben, wurde schon vor über 25 Jahren erstmalig der Begriff INCELs („involuntary celibates“) geprägt. Viele Männer verstehen nicht, warum sie bei Frauen erfolglos sind und wissen nicht, wo sie fachgerechte Hilfe erhalten können, weil im Hilfesystem niemand die Hintergründe und das Gefühlsleben dieser Männer verstehen will oder kann. Sie entwickeln immer mehr Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und Resignation – mit allen Gefahren, die dabei enthalten sind.
Die Sichtweise, die von den Leitmedien in immer wieder neuen Dokumentationen in Bezug auf INCELs¹ verbreitet wird, ist einseitig, übertrieben zugespitzt und von Voyeurismus gekennzeichnet. Meist entlarven diese Filme nicht die betroffenen Männer, sondern ihre Macher: empathie- und gefühllos, sensationslüstern und voyeuristisch. Auf die Idee, diesen Männern, die sich selbst mehr hassen als irgendjemand sonst, flächendeckend psychologisch oder sozial zu helfen, ist man bislang nicht gekommen. Die meisten INCELs sind am Ende hoffnungslose Männer und keine potentiellen Amokläufer. Das Verständnis und Wissen für eine Gruppe von Menschen, die in Deutschland nach vorsichtigen Schätzungen bis zu 1 Mill. Männer umfasst, sind bislang sehr gering. Deshalb im Folgenden die Fakten und mögliche Hilfen.
Der physisch unattraktive Typ und der psychisch problematische Typ kann getrennt und kombiniert auftreten. Die Typen können sich in der Negativentwicklung auch gegenseitig verstärken. Diese Wechselwirkung kann darin bestehen, dass Männer vom Typ 1 und 2 zunehmend psychische Probleme entwickeln und damit ihre Gesamtattraktivität noch niedriger wird. Zu den psychischen Problemen gehören neben Depressivität und Suizidaliät auch exzessiver Alkohol- und Drogengebrauch, Online- und Mediensucht, besonders in Bezug auf Pornographie.INCELs – ein Problem von Männern auf Basis mangelnden sexuellen Erfolges
INCELs sind Männer, die aufgrund dauerhafter Erfolglosigkeit bei der Suche nach Sex und Partnerschaft, in eine Spirale aus Frustration, Verzweiflung und Selbstzweifel geraten. Am häufigsten hassen sie sich am Ende selbst, aber oft auch die Frauen, von denen sie zurückgewiesen werden oder Frauen insgesamt.
Obwohl keine genauen Zahlen über die Häufigkeit dieser Männer vorliegen, ist klar, dass es nicht um nur wenige Betroffene handelt. Im Jahre 2018 berichtete der US-amerikanische „General Social Survey“, dass 28% der 18- bis 30-jährigen Männer im letzten Jahr keinen Sex hatten (Vergleichszahl Frauen: 18%!). In der Gruppe der 18- bis 24-Jährigen stieg der Anteil der Männer ohne Sexualität in den letzten 12 Monaten vom Jahr 2000 bis zum Jahr 2018 von 18.9% auf 30.9%². Vergleichbare Zahlen für Deutschland liegen nicht vor.
In der Entwicklungsgeschichte der Menschen sind solche Unterschiede nicht ungewöhnlich. Für frühere Gesellschaften – etwa im Neolithikum – ist aufgrund genetischer Analysen davon auszugehen, dass 20% der Männer für 80% aller Zeugungen verantwortlich waren. Die Männer, die sich so erfolgreich fortgepflanzt haben, werden heute Alpha-Männer genannt, weil sie den sexuellen Zugriff auf die meisten Frauen hatten. Mit anderen Worten: Bis zu 80% der Steinzeitmänner hatten keinen oder kaum Sex mit Frauen. Es gab also schon neolithische INCELs, die jedoch eng in Großfamilien (Sippen) eingebunden waren, und daher nicht so stark unter Einsamkeitsproblemen gelitten haben dürften, wie dies heute der Fall ist.
Kurze Geschichte der Paarbildung
Aufgrund der seit der Sesshaftwerdung der Menschen vor ca. 10.000 Jahren stattgefundenen „Erfindung“ der Monogamie und der Patrilinealität – der Organisation der Familien und damit des Besitzes und der Erbschaften entlang der väterlichen Linie - haben sich später die soziosexuellen Verhältnisse für Männer und Frauen deutlich verändert. Männer haben im Rahmen dieses Modells die Garantie der Versorgung von Frauen und ihren Kindern übernommen und wurden dafür mit dem Versprechen der sexuellen Treue belohnt.
Aber seit dem Zeitalter der romantischen Liebe – beginnend vor etwa 200 Jahren -, in deren Rahmen sich zwei Liebespartner finden und selbstbestimmt wählen - und dies nicht mehr in der Verantwortung der Eltern als arrangierte Ehen liegt - haben Männer mit physischen und psychischen Defiziten einen schweren Stand.
Hässliche und psychisch auffällige Männer: Kaum Chancen bei Frauen
Es sind besonders Männer, die in den Augen der meisten Frauen hässlich und unattraktiv sind, die Gefahr laufen, keinen Erfolg in der sexuellen Selektion zu erringen. Besonders ungünstige Merkmale sind, wenn sie zu klein und stark übergewichtig sind. Ungünstige psychische und soziale Merkmale kommen in einem zweiten Schritt meist noch selektiv dazu. Bis zu 12% aller Männer sind heutzutage im Alter von 30 Jahren immer noch sexuell unerfahren, haben meist trotz eifrigem Werbeverhalten keinen Erfolg bei Frauen. Dadurch werden sie unfreiwillig zu „männlichen Jungfrauen“, den INCELs (involuntarty celibates). Verantwortlich für ihre Erfolglosigkeit ist vor allem, dass sie nicht den Wunschvorstellungen der meisten Frauen an männliches Aussehen und Verhalten entsprechen.
Besonders bei der romantischen Anziehung, die im Zeitalter der Dating-Plattformen ganz besonders durch das Aussehen bestimmt wird, haben sie geringere Chancen auf einen Einstiegserfolg. Das Aussehen ist durch die Dating-Plattformen noch wichtiger geworden, als es zur ersten Kontaktanbahnung und für eine initiale Anziehung ohnehin schon war. Wie Männer diese Erfahrung von Zurückweisung und Erfolgslosigkeit verkraften, ist die zentrale Frage für ihre weitere Entwicklung. Es ist naheliegend, dass sie immer mehr Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung entwickeln, woraus Selbst- und Fremdhass entstehen können.
Woran liegt es? Gründe für die Entwicklung zum INCEL
Die Ursachen für die Erfolglosigkeit der Männer bei Frauen sind von verschiedener Art. Mindestens sind drei Subgruppen von Männern diesbezüglich vorhanden:
(1) wenig attraktive Männer, die aufgrund dessen Zurückweisungen von Frauen erhalten. Diese Zurückweisungen verstehen sie als die Konsequenz ihrer Unattraktivität, die sie oft als Hässlichkeit bewerten. Bei ihnen entwickeln sich besonders häufig Selbsthass, Depressivität und Suzidalität, aber auch Suchtprobleme.
(2) wenig attraktive Männer, die dies nicht wahrhaben wollen oder abwehren und aufgrund dessen die Zurückweisungen von Frauen nicht verstehen und die Ursache dafür ausschließlich in den Frauen sehen. Dies kann zu Fremdhass, insbesondere auf Frauen (Misogynie) und auch auf erfolgreiche Männer, führen.
(3) Männer mit psychischen Problemen (vor allem Autismus, Schizoidie, Schizophrenie, soziale Ängstlichkeit, Schüchternheit, Suchtstörungen), die durchaus eine physische Attraktivität aufweisen können. Bei näherer Bekanntschaft wandelt sich dieses Bild in den Augen der Frauen sehr schnell in Richtung einer nicht attraktiven Persönlichkeit.
Welche Jugendliche werden zu INCELs? – Determination, Risiko und Auswege
Die physischen Handicaps, die Männer hinsichtlich Aussehen und Verhalten zu INCELs werden lassen, sind durch Studien hinsichtlich des weiblichen Auswahlverhaltens auf dem Partnermarkt, bekannt und klar beschreibbar. Verschiedene Gruppen von Männern sind gefährdet, zu INCELs zu werden. Dazu zählen vor allem eine geringe Körpergröße (kleiner als etwa 175 cm), starkes Übergewicht (BMI ab ca. 30) sowie eine mangelnde physische Attraktivität hinsichtlich klassisch männlicher Merkmale wie markantem Kinn und Backenknochen, symmetrischem Gesicht sowie breiten Schultern. Das Merkmal der physischen Attraktivität ist wie viele andere körperliche und psychische Merkmale bei Menschen normalverteilt. Dies bedeutet, dass die meisten Männer mittlere Werte erreichen und wenige an den Rändern liegen. Besonders attraktiv sind nur wenige, dasselbe gilt für das Gegenteil. Die 15% bis 20% Hochattraktiven sind diejenigen, die von Frauen – gerade in Zeiten des Online-Datings – geradezu automatisch ausgewählt werden.
Gibt es Alpha-Männer und Beta-Männer?
Diese – nun wieder als Alpha-Männer in Erscheinung tretenden Männer - sind jene, die oft von anderen Männern wegen ihrer Erfolge bei Frauen beneidet und bewundert werden. Bei ihnen ist oft auffällig, dass sie Sexualkontakte zu Frauen geradezu konsumieren, schnell ihre Beziehungen wechseln und so ihren großen Erfolg durchgängig genießen, einfach weil sie aus einem Überangebot von Frauen wählen können. Alpha-Männer sind diejenigen, von denen andere Männer Frauen zu überzeugen versuchen, dass diese nur oberflächlich und gefühllos sind. Für viele Frauen ist das Zusammensein mit einem Alpha-Mann die Erfüllung ihrer unbewussten Träume, auch wenn sie hernach oft enttäuscht werden.
Die anderen Männer, die Betas, die nur durchschnittlich oder wenig attraktiv sind, kommen erst in Betracht, wenn es bei Frauen um Absicherung, Zweitehen (oft mit Versorgung schon vorhandener Kinder) oder Verbesserung des sozialen Status (ökonomische Hypergamie) geht. Auch wenn sich diese Partnerwahlmuster in Einzelfällen heutzutage verändert haben, gilt für die große Mehrheit der Frauen und Männer das beschriebene Muster. Die Evolutionspsychologie legt nahe, dass die beschriebenen Merkmale der Alpha-Männer im Jugend- und frühen Erwachsenenalter tatsächlich zu mehr Sexbeziehungen und Paarungserfolgen führen. Die Partnersuche auf der Basis von Online-Dating-Portalen (wie Tinder, Bumble usw.) verstärkt die Dominanz visueller Auswahlkriterien noch.
Ein Fallbeispiel für einen INCEL ohne Erfolg bei Frauen
Zur Verdeutlichung des Beschriebenen hier ein Fallbeispiel aus meiner psychotherapeutischen Praxis:
Torsten (Name geändert) hat seit der Pubertät immer wieder Zurückweisungen von Frauen erlebt. Er entspricht mit seinen 1,72 m und 115 kg ganz und gar nicht dem vorherrschenden und auch biologisch vorgeprägten Schönheitsideal. Im Zuge der letzten 15 Jahre hat er kontinuierlich ca. 25 kg zugenommen. Er hat als Jugendlicher erlebt, dass seine sportlich-athletischen Peers die Mädchen reihenweise erobert und „rumgekriegt“ haben, während seine Bemühungen auf Zurückweisung oder sogar Lächerlichmachung durch die Mädchen gestoßen sind. Seine Kumpel begegneten ihm meist mit Mitleid oder Ignoranz. Er hat mit 16 Jahren begonnen, als „Trost“ und zur Abreaktion (Masturbation) online mehr und mehr Pornographie zu konsumieren. Inzwischen gibt ihm dies aber immer weniger. Er fühlt sich nach dem oft zwanghaften Masturbieren noch negativer und unfähiger.
Die Mechanismen der sexuellen Selektion, nach denen gutes Aussehen hinsichtlich Größe, markantem Gesicht und Körperkraft den erfolgreichen Eintritt in den Partnermarkt (dating und mating) determinieren, sind ihm lange Zeit nicht klar gewesen. Er versuchte immer wieder, Erfolg bei Frauen zu haben, kam aber nie zum Ziel. Die Zurückweisungen durch Frauen machten ihn traurig und deprimiert. Er sah darin zunehmend den Beweis für seine körperlichen Defizite und Auffälligkeiten. Aus Frust begann er, wahllos Essen in sich hineinzustopfen und massiv an Gewicht zuzunehmen. Sein bester Freund, der groß und gutaussehend ist, hatte schon viele Beziehungen, Affären und One-Night-Stands. Nach und nach werden Torsten die Gründe für seine Misserfolge klar. Es schmerzt ihn sehr, dass er ausschließlich aufgrund seines hässlichen Aussehens keine Sex- oder Liebesbeziehung findet. Er hasst sich dafür zunehmend, mag aber seine Bemühungen nicht aufgeben. Er hat sich lange Zeit bemüht, eine Frau zu finden, die ihn akzeptiert. Er suchte bewusst eine Liebesbeziehung und nicht eine rein sexuelle Begegnung.
Aber nach seltenen scheinbaren Anfangserfolgen hat er am Ende, wenn es intimer und körperlicher werden sollte, stets Zurückweisungen erfahren. Innerlich wurde er zunächst traurig, dann verzweifelt, schließlich ärgerlich und wütend. Seine anfängliche Begeisterung und Leidenschaft für Frauen sind zunehmend in Resignation umgeschlagen. Er bemüht sich sehr, Frauen nicht zu hassen und sieht sie eher als Opfer ihrer unbewussten Triebe denn als aktive Täterinnen. Seit einiger Zeit tauscht er sich mit anderen Männern, denen es genauso ergeht, in sogenannten INCEL-Foren aus. Das zieht ihn oft noch weiter runter. Trotzdem fühlt er sich dort wenigstens verstanden, auch wenn die Peers dort sich immer wieder beschimpfen, wie hässlich andere oder sie selbst sind. Trotzdem lässt ihn das Ganze am Ende ratlos zurück. Er sucht schließlich Hilfe bei einem Psychotherapeuten mit der Hoffnung auf Veränderung seiner Situation.
Gesellschaftliche Ignoranz bis hin zu Psychotherapeuten
Die Gesellschaft sollte durch einfühlsame, respektvolle und nicht ausgrenzende Maßnahmen helfen, dass sich so wenige INCELs wie möglich radikalisieren. INCELs brauchen keine voyeuristischen Berichterstattungen, sondern hilfreiche und empathische Menschen und Psychotherapeuten, und das frühzeitig in ihrem Leben. Dass sie im Schulsystem keine präventiven Hilfen erhalten, ist ein großes Manko und zeigt die Ignoranz des Systems für diese Jungen. Würde man ihre Problematik frühzeitig erkennen und aufgreifen, könnte viel Leid verhindert werden. Aber nicht nur Lehrkräfte und Fachkräfte der Sozialen Arbeit wissen wenig über INCELs und kümmern sich nicht um diese Subgruppe, auch viele Psychotherapeuten sind ohne spezifische Kenntnisse.
Wer ist schuld: Die INCELs, die Frauen, die Gesellschaft?
Eines vorab: Weder INCELs noch Frauen tragen Schuld an der Situation. Aufgrund der unbewussten (Sex-)Partnerwahlkriterien finden diese Männer einerseits keine Sexualpartnerinnen und Frauen wollen diese Männer andererseits nicht als Sexualpartner. Die meisten INCELs sind deutlich unattraktiver als andere Männer und deshalb auf dem Partnermarkt so gut wie chancenlos. Diese Erkenntnis wird in der INCEL-Forschung als Blackpill-Theorie beschrieben. Sie spiegelt einen Großteil der Erfahrungen vieler Betroffener wieder, sollte jedoch nicht vollumfänglich generalisiert werden. Solange jedoch die betroffenen Männer die Mechanismen des Partnermarktes nicht erkannt und verstanden haben, folgen sie zu oft illusionären Hoffnungen und erleiden unnötige viele Zurückweisungen und Kränkungen. Realistische Erwartungen sind ebenso wichtig wie die Arbeit am Selbstwert in Anbetracht frustrierender Erfahrungen. INCELs können sich verändern und sollten es auch. Aber ob dies zum gewünschten Erfolg führt, kann nicht versprochen werden.
Frauen wiederum folgen bei der Partnerwahl ihren impliziten, evolutionär geprägten Mustern: Sie wollen den bestmöglichen Mann für sich und ggf. ihren Nachwuchs – und diesen stellt der INCEL ganz bestimmt nicht dar. Dies ist den Frauen nicht vorzuwerfen, aber wichtig zu erkennen.
Solange INCELs das Narrativ der Gleichheit – gleiche Chancen auf Sex und Partnerschaft – vermittelt wird, verlängert sich ihr von irrationalen Erwartungen und Hoffnungen getragenes Leiden. Sie müssen erkennen und akzeptieren, dass sie geringere Chancen auf Sex und Partnerschaft haben. Die Gesellschaft hat die Aufgabe, wahrhaftige Informationen zu liefern, auch wenn diese für INCELs niederschmetternd sind. Die Wahrheit ist: INCELs haben kaum oder keine Chancen auf Erfolge auf dem Dating-Markt, vor allem wenn dieser sich ausschließlich auf das Aussehen bezieht – wie etwas bei Tinder, Bumble usw.
Weg von Depression, Verbitterung und Hass
Die Entwicklung eines Jungen zum Mann, der dann jahrelang bei Frauen erfolglos bleibt und ein INCEL wird, ist eine Geschichte des Leids, der Kränkungen und Zurückweisungen. Diese geschehen aufgrund des unattraktiven Aussehens oder des psychisch abweichenden Habitus des Jugendlichen. Hinzu kommt meist das fehlende Mitgefühl des Umfelds – andere Jungen und Mädchen, welche den sexuell erfolglosen Jugendlichen im schlimmsten, aber nicht seltenen Fall mobben. Die Entwicklungsgeschichte von INCELs ist meist voller Frustrationen und Kränkungen bei der Suche nach Sex und Partnerschaft.
Die Entwicklungsgeschichte von INCELs verläuft nicht selten wie eine Spirale nach unten: Von Ablehnung, Unverständnis, Kränkung, Selbstzweifel, Ärger, Wut und Depression verläuft die Entwicklung zu Selbsthass und auch Fremdhass, wenn dieser Kreislauf aus Frustration und emotionaler Verwahrlosung nicht unterbrochen wird. Es ist von entscheidender Bedeutung, diese Entwicklung empirisch und gesundheitspolitisch zu verstehen und frühzeitig zu intervenieren. Die für die Betroffenen entscheidende Frage ist, wie sie die vielen negativen Ereignisse verstehen und verarbeiten können. Auf der einen Seite droht, Selbst- und Fremdhass sowie Depression und Verbitterung zu entstehen, auf der anderen Seite können diese Männer auch andere Lebensperspektiven und -inhalte jenseits einer oft zwanghaften Sex- und Partnersuche entwickeln, so dass sie insgesamt resilienter werden (siehe Kap. „Lösungen, Hilfen, Perspektiven“).
INCELs: Von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung zu Hilfen und Selbstmitgefühl
Bislang gibt es keine systematischen evaluierten Hilfen für INCELs. Es fehlen weitgehend Forschungsstudien und evidenzbasierte Programme für Psychotherapie bei diesen Männern. Dennoch lassen sich schon jetzt nützliche und hilfreiche Strategien ableiten, die systematischer Überprüfung in Bezug auf die beschriebene Klientel unterzogen werden sollten. Daher an dieser Stelle einige Ideen und Hinweise, welche Interventionen hilfreich sein könnten:
(1) Kognitive Klärung, kognitive Verhaltenstherapie, Psychoedukation
INCELs sollten verstehen, warum sie überwiegend oder nur negative Feedbacks auf dem Partnermarkt erhalten; nach Möglichkeit sich nicht auf dem frustrierenden Online-Dating Markt mit ausschließlich visueller Selbstpräsentation (Tinder, Bumble etc.) bewegen; das Prinzip der sexuellen Selektion („female choice“) verstehen. Durch kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen (Rational-Emotive-Therapie nach Ellis; Kognitive Therapie nach Beck) die eigenen negativen und irrationalen Gedanken erkennen und modifizieren; realistische Erwartungen aufbauen und verfolgen.
Eine typische irrationale Haltung von INCELs ist, dass sie ein Recht auf Sexualität mit Frauen haben. Ein tieferes Verständnis des menschlichen Paarungsverhaltens zeigt, dass es ein solches Recht in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht geben kann. Aber auch die Erkenntnis, dass die Welt niemals gerecht und perfekt sein kann, gehört zu den wichtigen Kardinalkognitionen. Damit sind grundlegende Erkenntnisse über die Welt und das Leben gemeint. Vor allem sind es der „Gerechte-Welt-Glauben“, die „Alle-müssen-mich-lieben-Haltung“, der „Anstrengung-muss-Erfolg-bringen-Mythos“ und das „Immer-perfekt-sein-Streben“, die den Menschen das Leben übermäßig beschwerlich und unzufrieden machen.
(2) Emotionale Klärung
Die mit Kränkungen und Zurückweisungen verbundenen Emotionen wahrnehmen und verarbeiten; besseren Selbstschutz aufbauen; Attributionsmuster in Zusammenhang mit Kränkung und Zurückweisung verändern; Gefühle von Selbst- und Fremdhass bearbeiten und verändern. Lernen, mit wiederholten Enttäuschungen und Zurückweisungen umzugehen, auch wenn dies extrem schwierig erscheint. Dabei Selbstakzeptanz bewahren oder wieder aufbauen. Sich vor Verbitterung bewahren oder lernen, diese aufzulösen und alternative emotionale Regulationsstrategien entwickeln.
(3) Existentielle und stoische Therapie
Wichtig ist es, die langfristigen Ziele und Lebensinhalte zu klären. Dies geschieht in der existentiellen Psychotherapie nach Irvin D. Yalom oder in der Logotherapie nach Viktor Frankl. Hier geht es um Fragen des Lebenssinns, der vernünftigen Lebensinhalte und des eigenen erfüllenden Seins. Die genannte Perspektive führt zu spirituellen Fragen nach dem tieferen Sinn der Existenz und des Lebens. Dies kann auch bedeuten zu hinterfragen, ob bei anhaltender Erfolglosigkeit bei der Partnersuche ein anderes Lebenskonzept passender ist und letzten Endes für mehr Zufriedenheit sowie Ausgeglichenheit sorgt.
Eng verwandt mit den sinnsuchenden Therapien ist die Haltung nach der in der antiken griechischen Philosophie begründeten Schule der Stoa. Bei einer stoischen Therapie wird die Frage des Erreichbaren und des Nicht-Erreichbaren beleuchtet. Beides soll bewusst voneinander unterschieden werden. Es sollen keine nutzlosen Energien in nicht erreichbare Ziele gesteckt werden. Gleichzeitig werden die stoischen Grundtugenden „Mut, Mäßigung, Gerechtigkeit und Weisheit“ vertieft. Sie sollen dann als Lebensmaximen und Tugenden erprobt werden. Oft verfolgen unglückliche Menschen, so auch INCELs, zwanghaft Wege, die sie nicht zur inneren Ausgeglichenheit und Balance führen.
So kann es klug und weise sein, nicht auf dem visuell fixierten Online-Dating-Markt mit anderen Männern zu konkurrieren und abzuwarten, bis die persönliche Chance auf eine Beziehung oder andere Lebensinhalte kommen. Auch die Ideen der MGTOW-Bewegung („men going their own way“) können bei der Entwicklung anderer Lebensinhalte und der Abkehr von der zwanghaften Suche nach Sex helfen.
(4) Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT)
Eine moderne Weiterentwicklung der existentiellen und stoischen Ansätze ist die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) nach Steven C. Hayes. Dies ist ein transdiagnostischer, achtsamkeitsorientierter kognitiv-verhaltenstherapeutischer Ansatz, dessen Ziel es ist, Menschen zu vermitteln, ihren emotionalen Problemen mit Akzeptanz, Achtsamkeit und Mitgefühl offen zu begegnen, statt ihre unangenehmen Emotionen zu verleugnen. Gleichzeitig sollen sie erkennen, was ihnen in ihrem Leben in einem tieferen Sinne wichtig ist und dies mit Hingabe und Intensität zu verfolgen. Zu den Zielen dieser Therapieform zählen neben Akzeptanz und Achtsamkeit vor allem die kognitive Dekonstruktion und Defusion blockierender Haltungen, die bewusste Wahrnehmung der Prozesse des eigenen Selbst sowie eine Ausrichtung des eigenen Handelns auf selbstgewählte, tiefere Werte. Mit Defusion ist die bewusste Trennung zwischen der eigenen bewertenden Wahrnehmung und der gegebenen Realität gemeint.
Die Therapie besteht hauptsächlich darin, die Person darin zu unterstützen, ihre dysfunktionalen Kontrollversuche abzubauen, indem sie ihre Bereitschaft erhöht, auch unangenehme Wahrnehmungen und Empfindungen zuzulassen (acceptance). Diese werden als das, was sie sind, nicht als das, was sie zu sein vorgeben, erkannt. Es geht darum, Wunsch- und Trugbilder abzubauen und die Gegebenheiten mit einer tieferen Selbstreflektion zu verstehen. Es können auch Weisheitsansätze, wie Buddhismus oder Stoa, verwendet werden, um zu tieferen Einsichten zu kommen. INCELs sollten ermuntert und angeleitet werden, Selbstmitgefühl zu entwickeln: Mit sich selbst so liebevoll und positiv umzugehen, damit sie keinen Hass auf sich und andere entwickeln müssen. Einen großen Raum nimmt in einer Therapie nach dem ACT-Modell die Klärung von Werten und Lebenszielen ein, aus denen dann konkrete, umsetzbare Handlungsschritte (commitments) abgeleitet werden.
Was INCELs und die Gesellschaft am meisten brauchen
Die Situation von INCELs muss in der öffentlichen Wahrnehmung anders dargestellt und gewichtet werden. Die Gesellschaft muss weg von der durch die Medien geschürten einseitig negativistischen Sichtweise auf INCELs, die von Ablehnung und Unverständnis dominiert ist. INCELs sind in erster Linie psychisch schwer gekränkte Menschen und keine potentiellen Amokläufer. Deshalb sind diese Jugendlichen und Männer in erster Linie hilfebedürftig. Sie sind nicht so sehr eine Bedrohung für die Gesellschaft, sondern ein Problem für sich selbst, da sie die vielen Zurückweisungen und Kränkungen, die sie bei der Sex- und Partnersuche erleben, entweder nicht verstehen oder nicht bewältigen können. Dort, wo bei den Betroffenen Hass und Verbitterung herrschen, gilt es in besonderer Weise, Hilfen und Therapiemöglichkeiten anzubieten. Die Gesellschaft lässt keine andere Personengruppe mit großem Leid so sehr im Stich wie diese Männer. Dies ist ein nicht zu übersehender Hinweis, dass die Gegenwartsgesellschaft selbst ein großes Problem mit der Realisierung und Akzeptanz des Problems dieser Männer hat und den ganzen Hintergrund ihrer Lage am liebsten verleugnet.
Dass Männer beim Versuch der Befriedigung eines der zentralsten menschlichen Bedürfnisse (Sexualität, Nähe, Partnerschaft) fast nur auf Zurückweisungen und Kränkungen stoßen, ist so hochproblematisch und in Einzelfällen tragisch, dass es hier frühzeitige Hilfen und Prävention geben muss. Eine mitfühlende Gesellschaft würde dies erkennen. Eine Gesellschaft, in der ein großer Gender-Empathy-Gap gegenüber Männern besteht, ist nicht bereit und in der Lage, diese emotionale Blindheit zu realisieren. Die gegebene gesellschaftliche und individuelle Situation führt INCELs nicht selten zu Depression und Suizidalität, aber auch zu Selbst- und Fremdhass. Hier sollte ein öffentliches Interesse an Hilfen vorhanden sein und eine Abkehr von der meist voyeuristisch motivierten Fokussierung der Medien in Richtung Gefährlichkeit und Hass.
INCELs brauchen frühe Hilfen, müssen die Abläufe in ihrem Leben verstehen und sich selbst weiterentwickeln können, damit keine Radikalisierung zu Selbst- und Fremdhass geschieht. Die bislang teilnahmslose Gesellschaft braucht einen Weckruf, dass sie nicht länger bestenfalls voyeuristisch zuschaut, sondern Verantwortung für diese Jugendlichen und Männer übernimmt. Integration statt Stigmatisierung!
Fünf Tipps für Männer ohne Sexualität auf der Suche nach Sexualität
Abschließend fünf Tipps für betroffene Männer, die ihre Chancen auf Erfolg bei Frauen verbessern wollen:
Tipp 1:
Gib die zwanghafte Suche nach Sexualität auf! Die ständigen Misserfolge zerstören Dich und vor allem Dein Selbstwertgefühl immer mehr. Suche Dir einen tieferen Lebenssinn als die zwanghafte Suche nach Sex, bei der Du zum Opfer Deiner Triebe und Sehnsüchte wirst, so sehr diese Wünsche zunächst nachvollziehbar sind. Sex sollte nicht der zentrale Inhalt Deines Lebens sein. Mache Dir dies klar! Sorge für inneren Ausgleich, so dass Du Dich nicht getrieben fühlst, eine Frau zu finden! Höre auf, Opfer Deiner Triebe und Impulse zu sein! Beende die innere Jagd nach Sex! Mache Dich unabhängig von Deiner Hetze nach sexuellem Erfolg!
Tipp 2:
Dein Wert bemisst sich nicht nach Deinem Erfolg bei Frauen! Dies ist eine illusionäre, irrationale Vorstellung. Nicht, was andere über Dich denken, ist entscheidend, sondern was Du über Dich denkst und wie Du emotional zu Dir selbst stehst. Kein Mensch kann entscheiden, ob Du wertvoll bist oder nicht – außer Du selbst! Entwickle – trotz aller Widrigkeiten und Frustrationen – eine positive Beziehung zu Dir selbst. Das fördert auch Deine Ausstrahlung anderen gegenüber.
Tipp 3:
Denke über Dich so nach, als ob Du für Dich der wertvollste Mensch auf dieser Erde bist! Wenn Du Selbstreflektion betreibst, schaue in erster Linie auf positive Merkmale von Dir. Bleibe nicht auf das Äußere fixiert! Entwickle nach und nach Selbstmitgefühl, so dass Du sorgsam und behutsam positiv mit Dir umgehst!
Tipp 4:
Gib Pornographiekonsum und Masturbation auf, auch wenn es Dir noch so schwer fällt! Pornographie ist eine Ersatzbefriedigung, die am Ende alles nur noch schlimmer macht. Sie sorgt bei Dir für noch mehr Minderwertigkeits- und Schamgefühle, jedesmal wenn Du Dir Filme angeschaut hast. Sie gaukelt Dir eine Scheinwelt vor, die es so nicht gibt. Es geht darum, Dich in Abhängigkeit und Unfreiheit zu halten.
Tipp 5:
Verbessere Dein Aussehen und noch mehr Deine Ausstrahlung! Du brauchst dafür keine Pickup-Artist-Kurse oder Flirt-Seminare zu besuchen. Im Gegenteil. Die nützen nichts und bringen nur den Kursleitern Geld. Was Dir helfen kann, sind Persönlichkeitscoaching, Selbsterfahrung und Psychotherapie. Auch Sportcoaching und Personal-Trainer können hilfreich sein. Mache Dich auf den Weg, Dir selbst Dein liebster Mensch zu sein, gerne auch mit Hilfe und Unterstützung anderer.
¹ INCELS diffamierende Dokumentationen:
² Ueda P et al.: Trends in frequency of sexual activity and number of sexual partners among adults aged 18 to 44 years in the US, 2000-2018. JAMA Network Open 2020; 3(6): e203833
grandioser Artikel, Danke dafür! endlich mal Tacheles, und kein "musst dich nur mehr anstrengen-Weltengleichheitsgeschwaller"!
Danke für die objektive Berichterstattung.
Als Betroffener braucht man wirklich nicht zusätzlich noch den Hass der normalen Leute.
Das Problem bei der Bewältigung ist die Sehnsucht, von einer Frau geliebt zu werden.
Ein Funken Hoffnung bleibt immer und man landet in der Friendzone und wird ausgenutzt und/oder verarscht.
Trotzdem kann man sich nicht komplett von Frauen fernhalten.
Also ich zumindest nicht.
Danke und Grüße an alle Incel und objektive Berichterstatter
Danke für Ihre offnen Worte und alles Gute. Herzliche Grüße Michael Klein