Im ersten Teil des Berichts zu innerer Leere bei Männern wurden die Hintergründe, Ursachen und Erscheinungsformen dargestellt. Im Folgenden geht es um psychische Probleme im Zusammenhang mit innerer Leere, empirischen Studien zu innerer Leere als chronischem Zustand und zu den geeigneten und möglichen Hilfen.
Chronische innere Leere und Depression – Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Innere Leere wird im allgemeinen Verständnis häufig mit Depression gleichgesetzt – nicht selten sogar als eines der Symptome davon begriffen. Beide Syndrome sind jedoch verschieden. Tatsächlich aber gibt es einige Überschneidungen: Gefühle von Sinnverlust, Antriebslosigkeit, sozialem Rückzug und emotionaler Taubheit können sowohl bei Depression als auch bei innerer Leere auftreten. Doch es lohnt sich, die Unterschiede genauer zu betrachten – gerade im Hinblick auf Geschlechtsspezifik und therapeutische Ansätze.
Während Depression ein klar umrissenes Krankheitsbild mit diagnostischen Kriterien darstellt – inklusive affektiver, kognitiver, motivationaler und somatischer Symptome – ist innere Leere ein transdiagnostisches Phänomen. Mit anderen Worten: Sie kann als Erlebenszustand unabhängig von einzelnen psychischen Störungen auftreten. Innere Leere kann somit innerhalb einer depressiven Episode auftreten, aber auch unabhängig davon auftreten. Auch kann sie bei anderen psychischen Störungen (z.B. Sucht, Borderline-Persönlichkeitsstörung) in starkem Maße vorhanden sein. Der wesentliche Unterschied: Bei der Depression ist das emotionale Leiden meist deutlich spürbar – die Trauer, die Schwere, das „Nicht-mehr-Können“.
Bei innerer Leere hingegen fehlt oft jede Affektivität: Es herrscht ein stilles Nichts. Der Zustand erinnert damit an Alexithymie, dem pathologischen Mangel an affektiver Schwingungsfähigkeit, der bei Männern häufiger auftritt als bei Frauen. Die Person kann aber durchaus psychischen Schmerz, Einsamkeit und Sinnverlust empfinden, jedoch keine Freude, kein Glück, kein positives inneres Leben. Bei innerer Leere kann jedoch – anders als bei Alexithymie – ein emotional starkes Leiden an dem Zustand der Leere mit dem drängenden Wunsch nach Veränderung bestehen. Bei allen Gemeinsamkeiten mit Depression oder Alexithymie bleibt chronische innere ein Erlebens- und Zustandsbereich mit vielen Besonderheiten und Eigenarten.
Besonders bei Männern zeigt sich die Abwehr gegenüber innerer Leere und Depression deutlich: Seidler et al. (2016) weisen darauf hin, dass Männer depressive Zustände häufiger externalisieren – durch Reizbarkeit, Wut, Suchtverhalten oder Rückzug – und seltener über klassische Symptome wie Traurigkeit, Verzweiflung oder Schuldgefühle klagen. So bleibt eine depressive Dynamik häufig unerkannt – oder wird als „Burnout“, „Midlife Crisis“ oder „chronische Unzufriedenheit“ beschrieben. Das Gefühl der inneren Leere, das die depressive Symptomatik begleiten kann, fungiert dabei vordergründig als emotionaler Schutzschirm: Sie dämpft die schmerzhafte Selbsterkenntnis, dass etwas tiefgreifend fehlt.
Die männerspezifische Form der Depression
In der Meta-Analyse von Rice et al. (2020) zur Geschlechterspezifik depressiver Symptome wird aufgrund der geschlechtsunterschiedlichen Ergebnisse vorgeschlagen, neue diagnostische Kategorien zu entwickeln, die speziell auf männliche Ausdrucksformen („male depression“; vgl. Männerdepression – Wo gibt´s denn so was?) eingehen. Innere Leere kann hier ein Signal für Depression sein – gerade bei Männern im mittleren Lebensalter, die nach außen funktionierend erscheinen, aber innerlich von sich selbst und der Welt abgeschnitten sind.
Auch therapeutisch ist die Unterscheidung zwischen Depression und innerer Leere bedeutsam: Depression erfordert oft eine Kombination aus psychotherapeutischen und medikamentösen Ansätzen. Innere Leere hingegen ruft nach einer existenziellen, beziehungsorientierten Begleitung – mit Fokus auf Sinn, Identität und emotionaler Integration. Natürlich können beide Syndrome auch parallel auftreten, so dass man von einer Ko-Symptomatik sprechen kann. Der differenzierte Blick auf die Symptomatiken verhindert Fehldiagnosen und ermöglicht individuell angemessene Unterstützung. In der Arbeit mit betroffenen Männern zeigt sich die Verschiedenheit der Syndrome, wenn deutlich wird: „Es ist ein Unterschied, ob jemand nicht mehr kann – oder ob er nichts mehr fühlt“. Darauf muss dann auch mit verschiedenartigen Hilfen reagiert werden.
Warum so selten nach innerer Leere gefragt wird – und wie wir besser damit umgehen können
Obwohl 10% bis 15% der Erwachsenen auf Nachfragen von chronischer innerer Leere berichten, bleibt sie oft unerkannt und damit auch unerwähnt –im gesellschaftlichen Diskurs, aber sogar auch in Therapien. Dies hat viele Gründe: Zum einen gibt es keine fest etablierten diagnostischen Kriterien. Zum anderen sind die Betroffenen selbst häufig nicht in der Lage, das Gefühl präzise zu benennen. „Irgendwas fehlt mir, ich weiß aber nicht was“ – so oder ähnlich lauten vage Beschreibungen.
Hinzu kommt ein professionelles Versäumnis: Therapeutische Aus- und Weiterbildungen schenken dem Phänomen bislang wenig Aufmerksamkeit. Eine Studie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs, 2022) ergab, dass weniger als 10 % der befragten Psychotherapeuten „innere Leere“ als eigenes Themenfeld in ihrem Ausbildungscurriculum behandelt hatten – trotz der hohen Relevanz in der Praxis. Von den Personen in Psychotherapie geben etwa 40 % an, dass innere Leere ein für sie ein relevantes Problem darstellt.
Bei Männern ist die Erkenntnisschwelle zusätzlich erhöht. Die Abwehr gegen tiefe innere und emotionale Problemlagen ist vergleichsweise sehr hoch. Viele Männer empfinden es als Schwäche, über ein „nicht greifbares Gefühl“ zu sprechen. Sie erkennen dann das Kernproblem der inneren Leere nicht oder erst sehr spät. Das Symptom bleibt hinter pragmatischen Klagen versteckt: „Ich bin leer im Kopf“, „Ich funktioniere nur noch“, „Alles ist mir egal“. Ohne gezielte Nachfragen bleibt die Leere unentdeckt, unerklärt, unverstanden – und damit bleiben die Betroffenen ohne Hilfe.
Was tun? – Wege der Sensibilisierung und Veränderung
„Die Leere war schon lange da, bevor ich sie benennen konnte. Und sie verschwand langsam, erst nachdem ich sie gehört habe“, sagte unlängst ein Mann in einer Männergruppe bei mir. Er wäre dankbar gewesen, wenn das Thema bei ihm schon früher von einem Therapeuten angesprochen worden wäre.
Im Umgang mit chronischer innerer Leere sollten eine Reihe von Sensibilisierungsschritte gegangen werden, die zunächst die Fachkräfte, auf weitere Sicht aber auch die Betroffenen angehen.
1. Professionelle Achtsamkeit stärken
Therapeutische, medizinische und psychosoziale Fachkräfte sollten innere Leere als eigenes Phänomen erkennen und im Kontakt, insbesondere schon im Anamnesegespräch, explizit danach fragen: „Haben Sie manchmal das Gefühl, innerlich leer zu sein?“ Oder: „Gibt es Zeiten, in denen Sie sich nicht lebendig fühlen?“ Solche Fragen können Türöffner sein – wenn sie im respektvollen, zugewandten Kontakt gestellt werden.
2. Sprachräume schaffen
Viele Männer finden keine Worte für ihr Erleben – nicht weil sie oberflächlich sind, sondern weil ihnen die Sprache dafür fehlt. Psychoedukative Materialien, Gruppenangebote oder Erzählräume (z. B. biografische Workshops) können helfen, innere Leere zu benennen, zuzuordnen und einzuordnen.
3. Kulturelle Narrative verändern
Die Kultur des „Funktionierens“ sollte durch eine Kultur der inneren Aufmerksamkeit und Wertschätzung ergänzt werden. Männliche Vorbilder, die von bewältigten Brüchen, Krisen und Leere berichten, können Tabus brechen und Mut machen – nicht im Sinne einer zusätzlichen Pathologisierung, sondern als Ausdruck von Reifung.
4. Früher Erkennungszeichen identifizieren
In Bildungseinrichtungen, in der Jugendarbeit und im Gesundheitswesen sollte mehr jungen- und männerspezifisch sensibilisiert werden. Das Ziel dabei ist, frühzeitig wahrzunehmen, wenn Jungen und Männer intrapsychische Probleme mit Leere und Sinnlosigkeitserleben entwickeln. Dann sollten passgenaue Präventionsangebote erfolgen.
5. Forschung und Öffentlichkeit verbinden
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit innerer Leere, Sinnkrisen und psychischer Gesundheit muss den Weg in die Öffentlichkeit und damit zu den Betroffenen finden. Es braucht populärwissenschaftliche Vermittlung, gezielte Sensibilisierungskampagnen und interdisziplinäre Projekte, die Forschung, Praxis und Betroffene vernetzen.
Existenzielle Isolation und chronische innere Leere – Ein empirischer Zugang
Innere Leere ist eine subjektive Erfahrung, sie lässt sich aber auch empirisch durch Befragungen beschreiben – insbesondere im Zusammenhang mit existenzieller Isolation. Der Begriff stammt aus der existenziellen Psychotherapie und meint die unausweichliche Trennung des Individuums von anderen, selbst inmitten sozialer Beziehungen (Yalom, 1980). Während soziale Einsamkeit durch Kontakte überbrückt werden kann, betrifft existenzielle Isolation eine tiefere Dimension: das Gefühl, mit dem eigenen inneren Erleben letztlich unentrinnbar allein zu sein. Deshalb ist eine akzeptierende, bewusste und tiefe Beziehung mit sich selbst die Voraussetzung für psychisches Wohlbefinden.
Aktuelle psychologische Studien zeigen, dass existenzielle Einsamkeit stark mit dem Gefühl innerer Leere korreliert. In einer repräsentativen Querschnittstudie von Stillman et al. (2021) mit über 2.000 Teilnehmern wurde deutlich: Menschen, die über ein hohes Maß an existenzieller Isolation berichteten, wiesen signifikant höhere Werte auf den Skalen zu emotionaler Leere, Anhedonie (Freudlosigkeit) und Entfremdung auf.
Auch in der qualitativen Forschung mehren sich die Studien, die auf das Phänomen der inneren Leere fokussieren: In einer Interviewstudie des Heidelberger Instituts für Psychosoziale Prävention (2022) wurde die innere Leere von vielen männlichen Teilnehmern als „unsichtbare Mauer“ beschrieben – ein Zustand, in dem Beziehungen nur noch oberflächlich funktionieren, aber emotional keine Resonanz mehr erzeugen. Besonders betroffen waren Männer zwischen 40 und 55 Jahren, die in Beruf und Familie äußerlich funktionierten, sich innerlich jedoch als nicht mehr beteiligt erlebten.
Die Phase der Lebensmitte – hohe Anfälligkeit bei Männern
Langzeituntersuchungen zur „Midlife Vulnerability“ (Brandstätter et al., 2019), die zwischen 40 und 60 verläuft, zeigen ebenfalls, dass Männer in dieser Lebensphase besonders anfällig für chronische Leere sind – nicht als Reaktion auf konkrete Verluste, sondern als Folge langjähriger Selbstentfremdung und unerfüllter Sinnsuche.
Weitere zentrale Ergebnisse der empirischen Forschung:
- Chronische innere Leere geht oft mit einer niedrigen Selbstkongruenz einher (Sheldon & Elliot, 1999).
- Männer berichten überdurchschnittlich häufig von einer Kluft zwischen äußerer Rolle und innerem Selbstgefühl.
- In psychotherapeutischen Settings wird Leere häufiger retrospektiv erkannt als aktiv benannt (vgl. Köhler et al., 2020).
Die empirischen Daten legen nahe, dass innere Leere nicht als isoliertes Phänomen zu begreifen ist, sondern als systemisches, biografisches und existenzielles Muster – besonders in der Lebensmitte von Männern. Eine reine Symptombehandlung greift hier deshalb zu kurz. Es braucht ein vertieftes Verständnis der subjektiven Lebensgeschichte und ihrer existenziellen Brüche. „Ich habe mich nie bewusst einsam gefühlt. Ich war einfach innerlich nicht mehr da“, beschrieb ein Studienteilnehmer sein Erleben.
Innere Leere und Männlichkeit im Spiegel aktueller Meta-Analysen
In den letzten Jahren haben mehrere Meta-Analysen die psychologischen, sozialen und geschlechtsspezifischen Aspekte innerer Leere aufgearbeitet – mit zum Teil überraschenden Ergebnissen. Meta-Studien sind zusammenfassende, gewichtete Analyse vieler Einzelstudien. Besonders aufschlussreich für das Thema „innere Leere“ sind Übersichtsarbeiten, die sich mit Männlichkeit, emotionaler Gesundheit und affektiver Dysregulation befassen.
Eine systematische Meta-Analyse von Wong et al. (2021) mit 43 Studien mit über 22.000 Teilnehmern zeigte: Männer berichten seltener über depressive Gefühle, aber signifikant häufiger über Zustände innerer Leere, Erschöpfung und Sinnverlust – insbesondere in Verbindung mit normativen Männlichkeitsidealen (z. B. Autonomie, Kontrolle, Leistung). Je stärker sich Männer mit traditionellen Männlichkeitsnormen identifizieren, desto höher ist das Risiko für Zustände chronischer innerer Leere.
Auch eine Meta-Studie von Fischer & Good (2020) zur Rolle emotionaler Unterdrückung (Suppression) bei Männern zeigt: Der Verzicht auf emotionale Ausdrucksformen (z. B. Weinen, Klagen, Sich-Anvertrauen) führt über die Jahre hinweg zu einer Entfremdung von sich selbst – mit Symptomen wie Abgestumpftheit, Beziehungsunfähigkeit und innerer Leere. Die Autoren betonen, dass innere Leere oft als Folge eines langjährigen Selbstverlusts durch übermäßige Emotionssupression (Gefühlsunterdrückung) zu verstehen sei.
Eine systematische Auswertung von 28 qualitativen Studien zu Männlichkeitsbildern und psychischer Gesundheit (Holter et al., 2022) kommt zu dem Schluss: Männer mit reflektierten, pluralistischen Männlichkeitsentwürfen zeigen deutlich geringere Anfälligkeit hinsichtlich innerer Leere.
Zentrale empirische Ergebnisse zu „innerer Leere“ im Überblick
- Normative Männlichkeitsideale erhöhen das Risiko innerer Leere (Wong et al., 2021)
- Emotionaler Rückzug wirkt sich langfristig mit negativen Effekten aus (Fischer & Good, 2020)
- Plurale, selbstreflektierte und differenzierte Männlichkeitsbilder wirken protektiv (Holter et al., 2022).
Die meta-analytischen Auswertungen der empirischen Studien zeigen: Leere ist nicht nur als individuelles Problem zu betrachten, sondern ist auch Produkt soziokultureller, gesellschaftlicher Leitbilder und deren Veränderungen. Therapeutische und präventive Angebote müssen deshalb stärker die soziokulturellen Skripte männlicher Identität reflektieren und deren Flexibilisierung unterstützen. Damit können sich Räume öffnen, in denen neue Formen emotionaler Erlebnisverarbeitung und Selbstbeziehung möglich werden. „Nicht der Mangel an Gefühlen macht Männer leer, sondern das Verbot, sie zu zeigen.“ (Fischer & Good, 2020)
Zum Abschluss: Therapeutische Optionen - Was wirkt gegen die innere Leere?
Die therapeutische Arbeit mit innerer Leere erfordert besondere Aufmerksamkeit – gerade bei Männern, bei denen die Leere oft nicht als Symptom, sondern als Zustand des „Nicht-Fühlens“ auftritt. Klassische Gesprächstherapien stoßen hier an Grenzen: Wenn keine Gefühle zugänglich sind, lässt sich auch schwer über sie sprechen. Stattdessen braucht es therapeutische Ansätze, die sowohl tiefenpsychologische als auch existenzielle und körperorientierte Dimensionen integrieren. Eine Vielzahl aktueller Studien und Praxisberichte zeigt, dass folgende Zugänge besonders wirksam sein können:
1. Existenzielle Psychotherapie und Logotherapie
Therapien mit sinnzentrierter Ausrichtung – vor allem nach Viktor E. Frankl (1992) – bieten einen Rahmen, in dem die Leere nicht als Defizit, sondern als existenzielle Herausforderung zur Ausgestaltung und Bewältigung verstanden wird. Frankl sah in der „existenziellen Frustration“ einen Schlüssel zur menschlichen Entwicklung. In der therapeutischen Praxis bedeutet das: Es geht nicht nur darum, die Leere zu füllen, sondern ihr eine Stimme zu geben und Sinnfragen zuzulassen. „Der Mensch ist nicht frei von Leid, aber er ist frei zur Haltung gegenüber dem Leid.“ (Viktor E. Frankl)
2. Körperorientierte Verfahren
Viele Männer erleben Leere als „nichts im Körper“. Körpertherapien wie Focusing (Gendlin), die Arbeit mit dem inneren Erleben (Reddemann) oder achtsamkeitsbasierte Verfahren (MBT) helfen, das leere Innenleben wieder zu spüren – ohne es sofort deuten zu müssen. Studien zur Mindfulness-Based Therapy (Kuyken et al., 2016) zeigen signifikante Verbesserungen bei depressiver Leere und Entfremdung. Die Leere kann mit Wahrnehmungen und Körpergefühlen angefüllt werden.
3. Männliche Gruppenformate und ritualisierte Settings
Gruppenarbeit mit Männern schafft Resonanzräume – gerade für jene, die innerlich vereinsamt sind. Männer erleben hier oft erstmals, dass sie mit ihrer Leere nicht allein sind. Besonders hilfreich sind ritualisierte Formate wie Initiationsprozesse, die nicht auf das „Reden über“, sondern das „Erleben von“ Identität abzielen.
4. Biografie- und Identitätsarbeit
Chronische Leere ist oft das Resultat einer biografischen Entfremdung. Methoden der narrativen Therapie, Genogrammarbeit oder Lebenslinienanalyse helfen, die „Brüche“ zu verstehen, die zu der starken Leere geführt haben. Dabei geht es nicht um Schuldzuschreibungen, sondern um Kohärenzbildung (Stimmigkeit): Wer versteht, wie seine innere Leere zustande gekommen ist, kann auch beginnen, sich wieder zu füllen – mit eigenen, stimmigen Inhalten.
5. Integration spiritueller Ressourcen
Spirituelle Zugänge – ob religiös im engeren Sinne oder säkular – eröffnen neue Perspektiven im Umgang mit der Leere. In vielen Traditionen gilt Leere nicht als Defizit, sondern als Raum für Wandlung. Therapeutisch kann hier an die Ressourcen des Betroffenen angeknüpft werden – sei es über Meditation, kontemplative Praxis oder die Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen. Theologisch-philosophische Gruppenseminare sind ebenfalls denkbar.
Vertiefung: Gruppenlogotherapie mit Männern – Wirksamkeit, Beispiele und Zitate
Die Anwendung von Logotherapie – der sinnzentrierten Psychotherapie nach Viktor E. Frankl – in Gruppensettings mit Männern hat in den letzten Jahren zunehmend an Relevanz gewonnen. Besonders bei anhaltender emotionaler Leere, chronischer Sinnkrise oder starkem Rückzugserleben mit Einsamkeitsproblematik erweist sich die Gruppenlogotherapie als wirkungsvoller Zugang. Sie verbindet drei zentrale Wirkfaktoren: Sinnorientierung, dialogische Begegnung und kollektive Resonanz.
Wirksamkeit und Studienlage Eine explorative Studie von Längle et al. (2018) zur Anwendung der Logotherapie in Männergruppen zeigte, dass die regelmäßige Beschäftigung mit Sinnfragen, Lebensentscheidungen und biografischen Brüchen die subjektive Lebenszufriedenheit signifikant erhöhte. Die Teilnehmer berichteten über mehr innere Klarheit, emotionale Verbundenheit und einen gestärkten Lebenssinn.
In einer deutschen Pilotstudie der Hochschule Esslingen (Schneider & Baumgart, 2020) mit 12 Männern zwischen 35 und 60 Jahren, die sich in einer Lebens- und Umbruchkrise befanden, konnte gezeigt werden, dass durch eine 10-wöchige sinnzentrierte Gruppentherapie folgende Effekte erzielt wurden:
- Zunahme emotionaler Ausdrucksfähigkeit
- Rückgang von Rückzugsverhalten und chronischer Apathie
- Höhere Kohärenz im biografischen Selbstbild
Ein Teilnehmer formulierte es so: „Ich habe mich selbst wieder im Gespräch mit anderen gefunden. Die Fragen, die wir gestellt haben, waren schmerzhaft – aber sie waren echt und richtig.“ In einigen Städten in Deutschland wurden schon logotherapeutische Männerabende ins Leben gerufen, die im Sinne selbsthilfeorientierter Aktivität die Beschäftigung mit Sinn- und Existenzfragen im Gruppenformat zum Thema machen.
Die spezifischen Vorteile der sinnorientierten Arbeit sind:
- Der Ansatz vermeidet Pathologisierung und öffnet Räume für Selbstreflexion ohne Scham.
- Durch den dialogischen Austausch entsteht Resonanz – das Problem der inneren Leere wird thematisiert, mit anderen geteilt, spürbar und reflektierbar.
- Rituale und Symbolarbeit (z. B. Lebenskompass oder Lebensanker, Sinn- und Wertekarte) erleichtern den Zugang zur inneren Orientierung.
- Die Gruppenlogotherapie hilft Männern, aus dem passiven Aushalten der Leere in einen aktiven, sinnorientierten Modus zu wechseln – ohne sie zu übergehen oder zu überdecken. Sie stärkt die Würde des Mannes, nicht durch Leistung, sondern durch Selbstreflektion.
„Sinn ist nicht das, was ich suche. Sinn ist das, worauf ich antworte.“
(nach Viktor E. Frankl)
Fallbeispiel: Richard, 48 Jahre – Vom Funktionieren zur Selbstbegegnung
Richard ist 48 Jahre alt, Vater von zwei erwachsenen Kindern, seit 20 Jahren in einer Führungsposition tätig. Von außen betrachtet ist er erfolgreich: Er verdient gut, ist sportlich aktiv, engagiert sich im Rotary-Club. Doch eines Tages kommt er in die Praxis und sagt: „Ich spüre nichts mehr. Nicht mal mehr Angst oder Wut. Es ist, als ob ich innerlich leer bin.“
Im Anamnesegespräch zeigt sich, dass Richard sein Leben nach außen hin stets im Griff hatte – aber um den Preis innerer Selbstverleugnung. Früh in seiner Kindheit musste er die Rolle des „starken Jungen“ übernehmen, weil der Vater alkoholkrank war. Emotionen galten als Schwäche. Er wurde leistungsorientiert, angepasst, ruhig. Seine Ehe besteht nur noch aus Routine, sein Beruf erfüllt ihn nicht mehr – aber er kann es kaum in Worte fassen.
In der therapeutischen Arbeit zeigt sich: Die Leere ist kein plötzliches Phänomen, sondern das Endergebnis jahrelanger Entfremdung vom eigenen Erleben. Richard beginnt zunächst zögerlich, über Wünsche und Sehnsüchte zu sprechen. Er nimmt an einer Männergruppe teil, macht erste Erfahrungen mit Meditation. Besonders wirksam ist für ihn das Schreiben eines inneren Monologs: „Was fehlt mir, das ich nie benannt habe?“
Nach einem halben Jahr kommt er mit einem Satz in die Sitzung, der Wendepunkt wird: „Ich glaube, ich will kein Held mehr sein – ich will einfach ich sein können.“ Diese scheinbar einfache Einsicht markiert den Beginn eines langsamen inneren Wandels. Richard kündigt seine Stelle, nimmt eine Auszeit, besucht eine Weiterbildung in existenzieller Beratung. Nicht, weil er ausbrechen muss – sondern um sich selbst wieder zu begegnen.
Sein Weg ist kein glatter, aber ein ehrlicher. In der Abschlussrunde der Männergruppe sagt er: „Ich habe gedacht, ich bin leer. Aber ich war nur abgeschnitten. Die Verbindung mit anderen hat mich wieder zu mir selbst geführt. Ich spüre, ich bin innerlich lebendig.“
Das Fallbeispiel zeigt: Innere Leere bei Männern ist oft Ausdruck biografisch gewordener Anpassung. Der Weg hinaus führt nicht über Aktionismus oder Selbstoptimierung, sondern über Innehalten, Austausch, Selbstreflektion und neue Orientierung. Richard hat diesen Weg gewählt – nicht als Rebellion, sondern als Rückkehr zu sich selbst.
Resümee: Die Leere als Prüfstein männlicher Reifung
Innere Leere ist kein Randphänomen – sie ist ein zentrales Symptom unserer Zeit. Besonders Männer begegnen ihr häufig in der Lebensmitte, an den Bruchstellen von Rollen, Beziehungen und Sinnentwürfen. Was zunächst als Erschöpfung, Apathie oder Unverbundenheit erscheint, erweist sich bei genauerem Hinsehen oft als eine vertiefte Suche nach innerer Wahrheit, nach Reifung und nach Aufbruch.
Die vertiefte Beschäftigung mit dem Thema zeigt, dass innere Leere nicht einfach ein psychisches Defizit ist, sondern Ausdruck komplexer biografischer, gesellschaftlicher und existenzieller Prozesse. Sie entsteht dort, wo sich ein Mensch – meist unbewusst – über Jahrzehnte von seinem inneren Erleben entfernt hat. Sie verdichtet sich, wo äußere Anforderungen das eigene Wollen überlagern. Und sie drängt zur Wandlung, wenn Schweigen nicht mehr trägt.
Für Männer liegt in dieser Leere auch eine Chance: Wer ihr nicht ausweicht, sondern sich ihr stellt, kann eine neue Form von Männlichkeit entdecken – eine, die nicht auf Stärke, Leistung und Kontrolle gründet, sondern auf Klarheit, Verbundenheit und Verantwortung für sich selbst.
Die therapeutische Arbeit und das biografische Beispiel von Richard zeigen: Es gibt Wege durch die Leere hindurch. Wege, die nicht bequem sind, aber echt. Wege, die nicht zurückführen zu alten Identitäten – sondern hin zu einem stimmigeren Selbst.
So verstanden ist die Leere kein Abgrund, sondern ein Durchgang. Kein Feind, sondern ein Prüfstein. Wer ihr begegnet, begegnet sich selbst – vielleicht zum ersten Mal. Hinter der inneren Leere kann – richtig und tief verstanden – ein innerer Reichtum verborgen liegen.
„Wenn es alle erleben und mittragen, beginnt in der Tiefe der Leere das, was uns trägt.“
(Teilnehmer einer Männergruppe)
Literaturverzeichnis
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