UA-176845053-2 Chronischer Neid, Opferhaltung und psychische Störungen

Oktober 17

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Chronischer Neid, Opferhaltung und psychische Störungen – Die verborgene Macht des Neids (III) (Männerrat #38)

Wenn Neid das Selbst auffrisst

Wie in „Die verborgene Macht des Neids" Teil I und Teil II gezeigt, ist Neid in unserer Gesellschaft und in der Menschheitsgeschichte ebenso weitverbreitet. Er sorgt für viele zwischenmenschliche, aber auch selbstbezogene Probleme. „Neidisch sind immer die anderen“, ist eine Redensart, die deutlich macht, wie leicht es ist, Neid zu negieren. Er ist meist nur aus dem nonverbalen Verhalten erschließbar und kann daher vordergründig einfach verleugnet werden.

Weil chronischer Neid sich immer wieder im Unklaren und Ungefähren verstecken kann, wird er oft zu einem chronisch beherrschenden Gefühl im Inneren eines Menschen und stellt eine erhebliche, aber oft nicht erkannte, Gefahr für die psychische Gesundheit des chronisch Neidischen dar. Neid bekommt immer mehr Macht über das Selbst des Betroffenen. Im Volksmund hieß es lange, dass jemand gelb vor Neid wird. Man glaubte, dass Neid die Galle zum Überlaufen bringt. Um die psychischen Risiken chronischen Neids geht es im Folgenden. Zu Beginn ein Fallbeispiel aus meiner psychotherapeutischen Praxis.

Fallbeispiel 1 – Der erfolgreiche, unglückliche Mann

Oliver, 42, ist Jurist in einer angesehenen Kanzlei, verheiratet, Vater zweier Kinder. Nach außen führt er ein beneidenswertes Leben. Doch innerlich nagt ein ständiges Gefühl der Unzulänglichkeit an ihm. Auf sozialen Medien vergleicht er sich obsessiv mit Kollegen, die noch schneller Karriere gemacht haben oder als charismatischer gelten. Obwohl er objektiv viel erreicht hat, spürt er keinen Stolz darauf – sondern Leere und Selbstzweifel. Auch die Atmosphäre in der Familie hat sich aufgrund seiner chronischen Unzufriedenheit mehr und mehr aufgeheizt.

Seine Ehefrau drängt ihn schließlich immer wieder zu einer Psychotherapie. Dort zeigt sich: Hinter der Fassade brodelt chronischer Neid, gespeist aus früher elterlicher Geringschätzung und dem tiefen Glaubenssatz, „nie gut genug“ zu sein. Olivers Vater war Richter an einem Bundesgericht. Den Eltern haben seine schulischen und auch sportlichen Leistungen nie ausgereicht. Die langfristigen Folgen: geringes Selbstwertgefühl, oft depressive Gedanken, Durchschlafstörungen, Ablehnungsängste und Rückzug aus sozialen Kontakten.

Chronischer Neid ist mehr als ein gelegentliches Aufbegehren gegen Gefühle von Ungleichheit oder Benachteiligung – er ist ein zerstörerisches Innengefühl, das sich tief in die Persönlichkeit einbrennen kann. Männer, die sich dauerhaft im Vergleich mit anderen abwerten, entwickeln neben den psychischen Problemen mit Selbstwert und Selbstbild oft auch Persönlichkeitsprobleme: Narzissmus, Antisozialität und Selbstunsicherheit sind die häufigsten Folgen im Bereich der Persönlichkeit. Diese, dann langfristig nur noch schwer veränderlichen Anteile des Selbst belasten dauerhaft und führen zu vielen Folgereaktionen wie krankhaftem Rivalisieren, unrealistischer Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie chronischer Feindseligkeit. 

Dabei bleibt Neid häufig unbewusst – er wird nicht als solcher erkannt, sondern verwandelt sich in Feindbilder, Groll und Selbst- oder Fremdentwertung. In Olivers Fall führt eine langfristige tiefenpsychologische Psychotherapie mit kognitiven verhaltenstherapeutischen Elementen zu einer allmählichen Verbesserung der Symptomatik und einem Loslassen der selbstzerstörerischen Neigung zum Neid. 

Vulnerabilität für Neid – Wer ist gefährdet?

Alle Menschen kennen das Gefühl des Neids. Für Männer heißt das: Nicht gut genug im Beruf zu sein, nicht genug Geld und Besitz zu haben, nicht schlau genug zu reden, nicht erfolgreich genug bei Frauen zu sein usw. Empirische Studien zeigen jedoch, dass bestimmte Persönlichkeitsmerkmale und Lebensumstände Menschen besonders anfällig für Neid machen.

Besonders gefährdet sind jene, bei denen sich dieser Zustand zu chronischem Neid entwickelt – einem dauerhaften Muster aus Vergleich, Missgunst und Selbstabwertung. So weisen Personen mit einem niedrigen Selbstwertgefühl, geringer Selbstwirksamkeitserwartung und einer starken externalen Kontrollüberzeugung („external locus of control“) eine erhöhte Neidtendenz auf (Smith & Kim, 2007). Auch die Persönlichkeitsdimension "Neurotizismus" (emotionale Labilität als eines von fünf Hauptmerkmalen der sogenannten „Big Five“-Persönlichkeitsmerkmale) korreliert signifikant mit Neid – ebenso wie das Streben nach sozialem Vergleich (Appel, Crusius & Gerlach, 2015). Menschen, die sich und ihrer Gefühle unsicher sind, tendieren dazu, sich ständig mit anderen zu vergleichen und Neidgefühle auf diese zu entwickeln.

Gesellschaftlich besonders anfällig sind junge Männer in Transitionsphasen (Übergangsphasen z. B. nach der Schule, im Berufseinstieg oder bei Trennungserfahrungen), da sie sich in dieser Zeit stark mit normativen Erwartungen konfrontieren und auch aus dem Umfeld intensiv mit solchen Vorstellungen konfrontiert werden. Wer keinen festen sozialen Rückhalt (Mangel an Freundeskreis) oder klare Wertebasis besitzt, wird schneller anfällig für externe Vergleichsmaßstäbe – und damit für Neid.

Auch Erfahrungen emotionaler Vernachlässigung in der Kindheit (insbesondere das Gefühl, nicht gesehen oder anerkannt zu werden) können eine latente Neidstruktur begünstigen. Das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein, oft trotz günstiger äußerer Lebensbedingungen, ist typisch für diese Menschen. Neid bildet sich oft als Schutz gegen ein Gefühl von Ohnmacht, Schmerz und Bedeutungslosigkeit heraus – und wird im späteren Leben durch Statussymbole, Partnerschaften oder Erfolge anderer getriggert. Der Selbstschutz besteht darin, dass der Neider sich nicht zu verändern braucht, wenn der Besitz oder die Eigenschaften, die andere haben, ungerechtfertigt sind.  

Phänomenologie des Neids

Neid ist ein vielschichtiges Gefühl, das sich auf unterschiedlichen Ebenen manifestiert: kognitiv, emotional, körperlich und sozial. Die Phänomenologie des Neids umfasst daher verschiedene Dimensionen, die im Erleben betroffener Männer eine zentrale Rolle spielen.

Körperliche Empfindungen:

Neid wird häufig als körperlich spürbare Spannung erlebt – ein inneres Zusammenziehen im Brustbereich, ein dumpfer Druck im Magen, Hitzeempfindungen oder sogar motorische Unruhe. Manche Menschen berichten von einem „bitteren Geschmack“, der sich mit der Wahrnehmung des Erfolgs anderer subjektiv tatsächlich einstellt.

Emotionale Komponente:

Neid kommt selten alleine auf. Er ist ein typisches Mischgefühl. Oft mit Scham (vgl. Männer, Scham und Gesellschaft (Männerrat #27)), Ohnmacht (vgl. Ohnmachtsgefühle (Männerrat #23)), Kränkung, Wut und manchmal auch Schuld. Der Neider erlebt sich zugleich als minderwertig und aggressiv – ein ambivalentes Gefühlschaos, das schwer auszuhalten ist. Besonders schambesetzt ist der Gedanke: „Ich sollte das nicht empfinden – aber ich tue es.“ Dadurch entsteht die Wahrnehmung, etwas Falsches zu fühlen, was man aber gleichzeitig nicht unterdrücken kann.

Kognitive Verzerrungen:

Chronischer Neid verzerrt die Wahrnehmung. Der andere wird idealisiert, während man sich selbst als permanent defizitär erlebt. Diese „negative innere Brille“ verstärkt sich mit jedem Vergleich – etwa in sozialen Medien oder am Arbeitsplatz. Der Fokus liegt nicht mehr auf dem eigenen Weg, sondern auf der (vermeintlichen) Überlegenheit der anderen.

Soziale Auswirkungen:

Neid beeinträchtigt die Beziehungsgestaltung. Männer, die sich oft vergleichen und abwerten, ziehen sich aus Furcht vor Niederlagen zurück, geraten in permanente Konkurrenz oder gehen in symbolische Kämpfe um Anerkennung. Gleichzeitig fällt es ihnen schwer, ehrlich über ihre Gefühle zu sprechen – was zu Einsamkeit und emotionaler Isolation führt.

Sprache des Neids:

Neid äußert sich oft indirekt – in Form von Spott, Zynismus, Abwertung, passiv-aggressivem Verhalten oder subtiler Geringschätzung. Die Betroffenen wirken kritisch oder kühl – doch unter der Oberfläche tobt ein starker innerer Konflikt.

Blicke des Neids:

Sprichwörtlich ist der neidische Blick. Dieser wurde in früheren Zeiten auch als Form des bösen Blicks angesehen. „Scheel“, also schief von der Seite zu gucken, ist Ausdruck des neidischen Blicks. 

Die genaue Betrachtung der phänomenologischen Struktur von Neid hilft, dieses Gefühl greifbarer zu machen. Wer Neid nicht nur als moralisch „verboten“, sondern als menschlich begreift, schafft die Grundlage für konstruktive Bearbeitung.

Neid als Quelle psychischer Beschwerden

In der psychoanalytischen Denktradition wird Neid oft – etwa bei Melanie Klein (1957) – als ein lebensgeschichtlich sehr früher Affekt beschrieben, der sich schon im Säuglingsalter aus der Frustration über Abhängigkeit und Ohnmacht vom Beziehungsobjekt (Mutter) speist. Dies sind und bleiben natürlich Spekulationen. Die Belege dafür sind rein hypothetischer Natur. Wenn das vermutete Neidgefühl nicht integriert oder bewältigt wird, kann es nach diesen Überlegungen später zu einem zentralen Störfaktor im Selbstwertgefüge werden.

In diesem Zusammenhang können sich nach Meinung der psychoanalytischen Leitpersönlichkeiten (Melanie Klein, Anna Freud) folgende psychische Probleme besonders häufig entwickeln:

  • Depression: Die ständige Abwertung der eigenen Existenz im Vergleich zu anderen kann in tiefe Hoffnungslosigkeit führen.
  • Narzisstische Persönlichkeitsstörung: Hier ist Neid auf andere das Kerngefühl, das gleichzeitig verleugnet und durch Größenfantasien überdeckt wird. Das Selbstbild im Hintergrund bleibt fragil.
  • Soziale Phobie und Vermeidung: Die Angst vor dem Vergleich mit anderen führt zu sozialem Rückzug, Scheu und Isolation. Die Vermeidung sozialer Kontakte soll das Selbst vor allzu viel Überforderung und Neid schützen, lässt es aber gleichzeitig chronisch unzufrieden zurück. 
  • Chronischer Groll und Verbitterung: Neid verwandelt sich in anhaltende Ressentiments gegen "die anderen" – oft begleitet von einem Gefühl permanenter Ungerechtigkeit gegenüber der Welt und bevorzugten anderen.

Neid ist oft mit psychischen Störungen assoziiert. Er kann genau diese psychischen Störungen begünstigen. Bisweilen ist Neid aber auch eine Folge psychischer Störungen, wenn die Betroffenen realisieren, wie sehr sie durch ihre Krankheit eingeschränkt und benachteiligt sind. 

Opferhaltung des Neiders als dysfunktionale Kompensationsstrategie

Ein besonderer Aspekt chronischen Neids ist die Tendenz zur Opferidentität – ein Selbstkonzept, in dem das eigene Unglück und die empfundenen Ungerechtigkeiten nicht nur biografische Episoden sind, sondern zum Kern der eigenen Identität werden. Die Betroffenen erleben sich als ungerechterweise benachteiligt, etwas dass sie ein schlechteres Aussehen und eine geringere Attraktivität haben oder dass sie weniger intelligent und erfolgreich sind. Dies erzeugt dann keine Motivation zur Verbesserung der eigenen Position, sondern negative Gefühle in Bezug auf die anderen. Ärger, Neid, Groll und bisweilen auch Hass. Diese Haltung erfüllt eine paradoxe Funktion: Sie verleiht moralische Überlegenheit gerade durch die behauptete Unterlegenheit, was dann auch tunlichst besser nicht verändert wird. Wer Opfer ist, steht – zumindest subjektiv – auf der höheren moralischen Stufe, denn er leidet und ist „unschuldig“ an seinem Leid.

Psychologische Funktion der Opferhaltung

Aus psychodynamischer Sicht dient eine chronische Opferidentität oft der Abwehr unangenehmer Selbstkonfrontation. Verantwortung für das eigene Handeln oder Unterlassen von Veränderung wird abgewehrt, indem die Ursache allen Unglücks konsequent nach außen auf andere oder die Umstände verlagert wird (externaler Attributionsstil). Mit dieser Strategie wird Neid zu einem Alltagsbegleiter: Das Opfer vergleicht sich ständig mit jenen, die in seinen Augen „vom System bevorzugt“ oder „vom Leben begünstigt“ wurden. Das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein, wird dabei nicht als persönlicher Ansporn genutzt, sondern als Beleg für die Richtigkeit des eigenen Neiderlebens. Der Neid rechtfertigt sich täglich selbst durch das Erleben von Ungerechtigkeit aufs Neue. Aus verhaltenstherapeutischer Sicht gilt Neid als erlernte Reaktionsweise, die durch ständigen sozialen Vergleich (z. B. über soziale Medien) verstärkt wird. 

Die Sozialpsychologen Zitek et al. (2010) sprechen von einer einem psychologischen Anspruchsdenken, das aus der erlebten oder behaupteten Opferrolle entsteht („psychological entitlement to victimhood“). Wer sich dauerhaft als Opfer definiert, empfindet häufig das Recht, besondere Rücksicht, Ressourcen oder Anerkennung einzufordern. Dies ist inzwischen zum gesellschaftlichen Imperativ geworden. Kurzfristig entlastet das die Personen, die sich als Opfer definieren, langfristig jedoch stigmatisiert es diese umso mehr und belastet die gesellschaftlichen Verhältnisse mit überzogenem Anspruchsdenken, Passivität und Spaltung. Darüber hinaus unterbleibt eine emanzipatorische Weiterentwicklung der Betroffenen, sie finden sich in einem Gefängnis aus Neid, Groll und am Ende Verbitterung wieder.

Die moderne Gesellschaft macht es – insbesondere jungen Männern und Frauen – leicht und bequem, sich in diesem psychologischen Gefängnis aus Neid und Passivität dauerhaft einzurichten. Schon mehr als 600.000 junge Menschen in Deutschland – mehr Männer als Frauen – zwischen 18 und 35 entziehen sich dem Arbeitsmarkt, obwohl sie arbeiten könnten, profitieren aber von Sozialleistungen der Gesellschaft (vgl. sogenannte NEETs). 

Moralische Immunisierung und Unantastbarkeit

Die chronische Opferhaltung erzeugt eine moralische Immunisierung: Kritik wird nicht als konstruktiver Hinweis, sondern als weiterer Angriff gewertet. Dadurch entsteht ein „emotionaler Schutzpanzer“, in dem die eigene Sichtweise zur einzig gültigen Wahrheit erklärt wird. Eine derartige Selbstverabsolutierung verhindert Dialog und Selbstreflexion. Aus dieser Position heraus legitimiert sich Neid von alleine. Wie der Psychoanalytiker Otto Kernberg betont, kann eine solche Haltung „zu einer narzisstischen Verfestigung des Selbst führen, in der die Rolle des Opfers als zentrales Identitätsmerkmal dient“ (Kernberg, 2004).

Das moralisch in sich bis zur Erstarrung gefestigte Opfer kann mit gutem Gefühl neidisch sein, weil ihm das, was er nicht hat, ungerechterweise vorenthalten wird und nicht Folge seines passiven Verhaltens ist. Ein anschauliches Beispiel liefert die politische Rhetorik mancher Bewegungen, die ihren gesamten moralischen Anspruch aus der eigenen Opferdefinition ableiten: Wer sich als strukturell benachteiligt bezeichnet, beansprucht Deutungshoheit über alle Diskurse zu diesen strukturellen Bedingungen, weil „nur Betroffene wissen, wie es wirklich ist“. Auch hieraus ergibt sich wieder ein subjektives Gefängnis mit den vordergründigen Vorteilen der moralischen Unantastbarkeit, aber den psychischen Hypotheken dauerhaften Neids und Verbitterung.

Der Komfort und die Sackgasse der Ohnmacht

Aus verhaltenstherapeutischer Sicht liegt in der Opferhaltung der „Komfort der Ohnmacht“ (Beck, 2011): Wer keine Verantwortung trägt, muss auch keine Entscheidungen treffen, kein Risiko eingehen und sich keiner Selbstkritik stellen. Schuldzuweisungen an „die anderen“ – seien es Einzelpersonen, Gruppen oder ein „System“ – entlasten kurzfristig von Selbstzweifeln und Misserfolgsängsten.

Doch genau darin liegt die psychische Sackgasse: Je länger man die Opferidentität pflegt, desto mehr verfestigt sich dieser Zustand. Im Grunde will man ihn irgendwann gar nicht überwinden, weil sonst die Basis der Klagsamkeit entfallen würde. Veränderungen würden das Verlassen der Komfortzone erfordern – was bedeutet, das eigene Handeln, die eigenen Fähigkeiten und Grenzen realistisch zu betrachten und auch zu akzeptieren. In der Folge würde es vor allem eigene Anstrengung, Frustrationen und das Investieren von Mühe und Energie bedeuten, also alles, was mit hoher innerer Motivation einhergeht. Für viele chronisch neidische Menschen ist dies in ihrer komfortablen Opferhaltung ein zu hoher Preis. Realistisch betrachtet ist es den Preis jedoch tausendfach wert. Auf der anderen Seite drohen dauerhaft Depression, Vereinsamung und soziale Ängste.

Neid als ständiger Begleiter

Neid ist in der Dynamik der chronischen Opferhaltung nicht nur ein Symptom, sondern das dauerhafte Bindemittel der Opferidentität. Die Wahrnehmung, dass andere mehr, es besser oder leichter haben, dient als permanenter Beweis für die Ungerechtigkeit der Welt. In dieser Logik muss der Neid nicht überwunden werden – er wird kultiviert, um die eigene Opfererzählung zu stützen. Schon lange weiß die Unfreiheit des Neidischen klar: „Der Neidische ist niemals frei; er ist gebunden an den, dem er seinen Neid zuwendet. In der Opferhaltung macht er diese Bindung zu seiner moralischen Waffe“ (Helmut Schoeck, Der Neid, 1966, S. 189).

Auswege aus der Opferfalle

Der Weg aus der Opferhaltung – und damit auch aus dem chronischen Neid – beginnt mit der Übernahme von Selbstverantwortung und der Akzeptanz einer nicht idealen Welt, in der Welt nicht alles gleich verteilt sein kann. Daraus folgt, dass man sich für Änderungen der eigenen Situation mit voller Energie genau dort einsetzt, wo dies möglich ist. Wo es unmöglich oder unerreichbar ist, dies aber mit innerer Gelassenheit (Gelassenheit (Männerrat #18)) zu akzeptieren lernt. Im Übrigen ist genau dies die Haltung der jahrtausendealten Philosophie des Stoizismus (vgl. Stoisch denken und handeln – ein Lebensprinzip im 21. Jahrhundert (Männerrat #33)). Man kann nur das verändern in seinem Leben, auf das man einen Einfluss hat, dies sollte man dann aber auch mit aller Kraft tun und keine sinnlose Energie in Neid verschwenden. Man ist bei weitem nicht für alles verantwortlich ist, was einem widerfährt, wohl aber für den Umgang damit. Viktor Frankl formulierte es so: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion.“(Frankl, …trotzdem Ja zum Leben sagen, 1946)

Therapeutisch bewährt haben sich Ansätze, die die Opferidentität sanft, aber konsequent hinterfragen, etwa in der kognitiven Verhaltenstherapie (Überprüfung von Attributionsmustern), im Schemacoaching (Bearbeitung von „Ohnmachts“- und „Ungerechtigkeits“-Schemata) oder in der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT), die Handlungsbereitschaft auch unter schwierigen Umständen fördert.

Fallbeispiel 2 – Der Übersehene

Thomas, 48 Jahre, arbeitet seit über 20 Jahren in einer kommunalen Verwaltung. Er gilt als zuverlässig, aber nicht als besonders initiativ. In den letzten zehn Jahren sind mehrere jüngere Kollegen an ihm „vorbeibefördert“ worden – darunter auch Personen, die deutlich kürzer im Dienst sind. In Gesprächen mit Freunden beschreibt Thomas diese Entwicklungen fast ausschließlich als Ausdruck einer ungerechten Bevorzugung durch die Vorgesetzten: „Wer sich beim Chef einschleimt oder Vitamin B hat, kommt halt hoch. Ich habe das nie nötig gehabt.“ Auf die Frage, ob er sich selbst je aktiv um eine höhere Position bemüht habe, reagiert Thomas mit Ärger: „Wieso sollte ich mich anbiedern? Die müssten doch sehen, was ich leiste!“ Mit der Zeit hat sich sein Selbstbild stark verengt: Er sieht sich als Opfer eines ungerechten Systems, das Leistung nicht anerkennt. Sein Neid auf die „Beförderten“ äußert sich in abfälligen Bemerkungen („Der hat ja nur den Posten, weil er sich anbiedert“), in passiver Arbeitsverweigerung, Arbeitsunlust und in einem zunehmenden Rückzug aus dem Kollegenkreis.

Psychologisch betrachtet, erfüllt die Opferhaltung bei Thomas zwei Funktionen:

  1. Schutz vor Selbstzweifeln – er muss sich nicht fragen, ob er vielleicht selbst zu passiv, zu unflexibel oder zu konfliktscheu ist und sich diesbezüglich ändern sollte.
  2. Moralische Selbstaufwertung – er kann seine Unterlegenheit als Zeichen von Integrität deuten („Ich mache da nicht mit“) und sich somit moralisch überhöhen.

Langfristig jedoch hat diese Strategie fatale Folgen: Thomas verpasst Chancen zur Weiterentwicklung, isoliert sich sozial und verfestigt ein Selbstbild, das ihm jeden Handlungsspielraum nimmt. Sein Neid wird zur Dauerschleife, die er selbst mit am Laufen hält – ohne es zu bemerken. Das Fallbeispiel illustriert die Sackgassenlogik chronischer Opferhaltung: Die Verantwortung bleibt immer bei „den anderen“, wodurch die innere Bindung an das Objekt des Neids – die beförderten Kollegen – paradoxerweise immer stärker wird. Eine Änderung der Symptomatik und des hintergründigen Denkens wird sich kaum jemals ergeben, wenn es nicht zu einschneidenden Problemen im gesamten Leben der Person kommt. 

Wege aus dem chronischen Neid

Der Weg aus dem Neid beginnt mit der Bewusstwerdung, dass es ein Problem gibt. Neid muss als destruktives Gefühl erkannt werden, ohne sich dafür zu schämen. Sodann folgt das Wissen, dass es notwendig und möglich ist, chronischen Neid einzudämmen und im Idealfall völlig loszuwerden. Die destruktiven Impulse, die vom Neid ausgehen, müssen betrachtet und reflektiert werden. Therapeutisch helfen hier:

  • Arbeit am Selbstwert
  • Entwicklung gesunder Autonomie
  • Aufbau authentischer Beziehungen
  • Förderung von Dankbarkeit und Sinnfindung
  • Fähigkeit zum Gönnen und zur Großherzigkeit 

Auch Alfred Adler (2011) betonte in seiner Individualpsychologie die Bedeutung von Gemeinschaftsgefühl: Der Neidvolle sieht sich immer als Außenseiter – Entwicklung bedeutet, sich als Teil eines größeren Ganzen verstehen und akzeptieren zu können. Darauf aufbauend können tatsächlich fruchtbare Gemeinschaften entstehen. 

Zusammenfassung und Ausblick

Chronischer Neid ist kein isoliertes Gefühl – er wirkt als Grundhaltung, die die Wahrnehmung verzerrt und soziale Beziehungen untergräbt. Männer, die unter chronischem Neid leiden, brauchen Räume der Selbstannahme, der Reflexion des bisherigen Empfindens und des realistischen Vergleichs. Nicht „die anderen“ sind das Problem – sondern der eigene Blick, die eigene Innenwelt. Je mehr innere Sicherheit und Stabilität entsteht, desto weniger Macht hat der Neid.

Quellen

Adler, Alfred (2011): Menschenkenntnis. Frankfurt: Fischer.

Appel, H., Crusius, J., & Gerlach, A. L. (2015): The interplay between social comparison orientation and neuroticism in envy. Personality and Individual Differences, 85, 111–117.

Beck, A. T. (2011). Cognitive Therapy of Personality Disorders. Guilford Press.

Frankl, V. E. (1946). …trotzdem Ja zum Leben sagen. Wien: Deuticke.

Kernberg, O. F. (2004). Borderline Conditions and Pathological Narcissism. New York: Aronson.

Klein, Melanie (1957): Envy and Gratitude. London: Tavistock.

Schoeck, H. (1966). Der Neid. Freiburg: Herder.

Smith, R. H., & Kim, S. H. (2007): Comprehending Envy. Psychological Bulletin, 133(1), 46–64.

Zitek, E. M., Jordan, A. H., Monin, B., & Leach, F. R. (2010). Victim entitlement to behave selfishly. Journal of Personality and Social Psychology, 98(2), 245–255. https://doi.org/10.1037/a0017168


Tags

Depression, Narzissmus, Neid, Opferhaltung, Persönlichkeitsentwicklung, Psychische Gesundheit, Selbstwert, Selbstzweifel


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